Die "vertu politique", die Montesquieu als unumgängliche Voraussetzung für die Ausgestaltung eines sinnvollen Gemeinwesens betrachtete, hat in Deutschland wenig Wurzeln geschlagen. Hier schätzt man andere Eigenschaften, andere Werte, andere Sehnsüchte. Denn man weiß schon: Politik verdirbt den Charakter. Eine politische Kultur, die diesem Namen gerecht wäre, hat sich bis zur Stunde nur in Ansätzen entwickelt, auch nach über fünfzig Jahren staatsrechtlicher "Normalität".
Deutschland ist historisch eine verspätete Nation; politisch ist es eine unfertige Nation. Die Spuren einer jahrhundertelangen vor- und undemokratischen Tradition sind noch heute mit Händen zu greifen. Es hat in den letzten 55 Jahren bemerkenswerte Fortschritte, abe
ritte, aber auch verheerende Rückschritte gegeben. Auch in Bezug auf die Politik sind die Deutschen zwischen den zwei Seelen zerrissen, die in ihrer Brust wohnen. Und da die Bewältigung der Vergangenheit alles andere als abgeschlossen ist, bleibt der Demokratisierungs- und Selbstaufklärungsprozess stets sowohl prekär wie gefährdet. Die immer sichtbarer werdende Fehlentwicklung der Republik in praktisch allen Bereichen zeigt, dass etwas grundlegend Falsches im Staate Deutschland gelaufen ist. Und das gilt an erster Stelle für die Politik. Wir wollen uns dies näher ansehen.Die ParteienJe gravierender die Probleme werden, mit denen sich das Land des Wirtschaftswunders und des "Wohlstands für alle" konfrontiert sieht, umso weniger schaffen es die im Bundestag vertretenen Parteien, sie halbwegs in den Griff zu bekommen. Durch ihre Konzept- und Hilflosigkeit gelähmt, erschöpft sich ihre Tätigkeit im wesentlichen darin, die zunehmenden Widersprüche und Aporien des Systems mit Ideologie zu überdecken. An dieser Sublimierungsarbeit beteiligen sich alle Parteien. Dies erklärt unter anderem, dass sie sich untereinander lediglich durch ihr Vokabular unterscheiden - und das nicht einmal immer. Es herrscht weit und breit die "pensée unique" - auch und gerade beim Volk der Dichter und Denker und der "metaphysischen Tiefe" (Heidegger).Dieses sich rapide vermehrende Einheitsdenken wird von den Parteien freilich nicht zugegeben. Je evidenter die Homologie unter ihnen, desto häufiger wird von Pluralismus gesprochen. Aber der Anspruch auf Singularität und Differenz ist ja nur der Kategorische Imperativ, den der Konkurrenzkampf erfordert. Parteien unterstehen demselben Zwang wie Firmen: sie müssen konkurrieren, sich profilieren und ihre Klientel von ihrer Einzigartigkeit überzeugen. Dies geschieht teils durch Verherrlichung der eigenen Position, teils durch Herabsetzung der anderen Parteien. Deshalb herrscht in Wahlzeiten dasselbe Feind-Freund-Verhältnis, das Carl Schmitt für den Inbegriff des Politischen hielt. Wenn es aber die instrumentelle Vernunft verlangt, werden Koalitionen mit den einstigen Gegnern bedenkenlos gebildet, wie zuletzt in Brandenburg zwischen der SPD und der CDU. Aber von diesen Machenschaften, Grabenkämpfen und Strategien abgesehen, gilt in Deutschland ein ungeschriebenes Gesetz: der Feind steht immer links. Nicht zuletzt deshalb positioniert sich die SPD als die Neue Mitte.Die Ästhetisierung der PolitikZu der von den bundesrepublikanischen Parteien unentwegt produzierten Ideologie gehört an oberster Stelle die Ästhetisierung der Politik. Dort, wo Brot und Arbeit Mangelware werden, muss man Illusionen, Fiktionen und künstliche Paradiese herbeizaubern, eine Aufgabe, die im multimedialen Zeitalter vor allem vom Fernsehen erledigt wird. Die Ästhetisierung der Politik ist keine ausschließliche Eigenart des Faschismus, wie Walter Benjamin meinte; sie wird auch und gerade in der spätkapitalistischen Gesellschaft massiv betrieben. Die "hidden persuaders" (Vance Packard) sind längst auch auf dem politischen Markt tätig. Zweck des Ästhetisierungsprozesses ist es, durch Design, Reklame, Bildsymbolik, äußeren Schein und andere Formen der visuellen Verführung den Menschen von der Häßlichkeit der bestehenden Verhältnisse abzulenken: chronische Arbeitslosigkeit, Reproletarisierung, Sozialdarwinismus, neue Armut, strukturelle Repression, Neofaschismus, Rassismus, physische und seelische Gewalt und andere Erscheinungen der realkapitalistischen Gegenwart.Das Schöne bildete bei den alten Griechen eine geschlossene Einheit mit dem Wahren und Gerechten; Ästhetik und Ethik waren ein und dasselbe. Das Schöne ist in der jetzigen Phase des entfesselten Kapitalismus nur noch eine abstrakte und inhaltslose Kategorie ohne jeglichen Bezug auf ethische, humane oder soziale Werte.Wirtschaft und PolitikDer Handlungsspielraum der politischen Parteien hängt sehr stark von den in der Gesellschaft objektiv herrschenden ökonomischen Bedingungen ab. Das ist so bekannt wie unumstritten. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Träger der politischen Macht bloße Transmissionsriemen des Großkapitals sind, wie der Vulgär-Marxismus behauptet. Die Entwicklung eines Gemeinwesens lässt sich nicht auf die ökonomischen Faktoren reduzieren. Eine ebenso wichtige Rolle spielt dabei die subjektive Gesinnung der politischen Führungsschichten.Die Beteiligung der Bundeswehr an dem NATO-Aggressionskrieg gegen Jugoslawien hatte nichts zu tun mit der objektiven Lage der deutschen Wirtschaft, sie erfolgte auch nicht auf Befehl des Großkapitals; sie war eine rein subjektive Entscheidung der rot-grünen Führung. Und genauso rein persönlicher Natur war die zustimmende Haltung der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Dass sich Bündnis 90/Die Grünen innerhalb nur weniger Jahre von einer pazifistischen zu einer bellizistischen Partei verwandelt haben, kann man wirklich nicht mit der Diktatur des Kapitals über die Politik erklären. Die Wirtschaftsbosse kann man ebenso wenig dafür verantwortlich machen, dass sich an der Spitze des Verteidigungsministeriums ein Sozialdemokrat befand, der sich als hemmungsloser Kriegstreiber entpuppte. Und genauso wenig sind die Großkonzerne und Großbanken daran schuld, dass Gerhard Schröder zwar als Dandy, nicht aber unbedingt als Kanzler brilliert.Das VolkWie reagiert das deutsche Volk angesichts des erbärmlichen Spiels, das seine politischen Repräsentanten ihm anbieten? Es reagiert kaum. Substantiell ist der Durchschnittsdeutsche das unpolitische Individuum geblieben, das Thomas Mann in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" beschrieb. Das aus der bürgerlichen Ideologie hervorgegangene Parteiensystem ist mit der Vorstellung eines kritischen Subjekts kausal verbunden, das schon aus Eigeninteresse bedacht ist, die Macht zu kontrollieren und sich für ein gut funktionierendes Gemeinwesen einzusetzen. Das ist aber genau das, was die Deutschen am wenigsten tun. Der einzige heroische Akt, den der deutsche Michel wagt, ist, der Wahlurne fern zu bleiben und seiner Stammpartei einen "Denkzettel" zu verpassen. Der Deutsche ist an erster Stelle "homo privatus", und solange er mit seinen eigenen Angelegenheiten halbwegs zufrieden ist, kümmert er sich nicht um die öffentlichen Belange.Die Parteien nutzen diese staatsbürgerliche Abstinenz ausgiebig aus, um mit ihrer Macht das zu tun, was ihnen in den Kram passt. Entsprechend zeichnen sie sich durch Selbstherrlichkeit, Arroganz und Willkür aus. Schon von seiner Struktur her ist das Wesen der parlamentarischen Demokratie durch die Trennung zwischen Regierenden und Regierten geprägt; damit ist schon a priori die Gefahr gegeben, dass die politische Oligarchie ihr Mandat zum Schaden des Volkes miss braucht. Schon Rousseau stellte in seinem "Contrat social" fest, dass die Wähler nur am Wahltag frei und ansonsten der Willkür der Machtinhaber ausgesetzt sind. Gerade die deutsche Geschichte zeigt, wie fundiert seine Warnung war.Was tun?Deutschland braucht dringend eine neue politische Kultur. Sie wird aber nur zustande kommen, wenn eine tiefgreifende Erneuerung der Gesellschaft stattfindet. Und dies ist eine Aufgabe, die die Mitwirkung jedes Einzelnen erfordert. Der Deutsche ist bisher vorwiegend "homo consumens" geblieben; wenn er bessere politische Parteien will, muss er auch lernen, "homo politicus" zu werden und sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen.Seit Plato und Aristoteles wissen wir, dass Politik und Ethik zusammen gehören. In Deutschland entfernen sich beide Begriffe immer mehr voneinander. Es gilt, diesem verhängnisvollen Prozess Einhalt zu gebieten und für die Entstehung einer Republik zu kämpfen, die nicht nur im Dienste privilegierter Schichten und Korporationen, sondern der gesamten Bevölkerung steht, darunter auch der über sieben Millionen nichtdeutschen Menschen, die in diesem Lande leben.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.