Demokratie und Liberalität sind unzertrennbar

Polen Die Kritik der EU-Länder an der polnischen Justizreform ist richtig. Damit sie glaubhaft wird, müsste man allerdings auch vor der eigenen Türe kehren
Abertausende gingen in Polen gegen die Reform auf die Straße
Abertausende gingen in Polen gegen die Reform auf die Straße

Foto: Janek Skarzynski/AFP/Getty Images

Zehntausende Polen protestieren auf der Straße gegen den Umbau des Justizsystems durch die Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, „Recht und Gerechtigkeit“). Die Präsidentin des polnischen Verfassungsgerichts, Małgorzata Gersdorf, warnt vor den von der PiS-Regierung eingebrachten Gesetzen. Sollten sie in Kraft treten, „dann gibt es keine Gewaltenteilung mehr in Polen“. Und erstmals in der Geschichte der EU droht die Kommission einem Mitgliedsstaat damit, ihm nach Artikel 7 des EU-Vertrags wegen eines Verstoßes gegen rechtsstaatliche Prinzipien das Stimmrecht im Europäischen Rat zu entziehen.

Artikel 10 der polnischen Verfassung schreibt die Gewaltenteilung im Staat fest und betont dabei ausdrück­lich die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive. Dem zum Trotze sehen die von der PiS-Mehrheit in Sejm und Senat verabschiedeten Gesetze vor, dass eine parlamentarische Mehrheit den Richter ernennenden Natio­nalen Justizrat maßgeblich steuern kann, dass der Justizminister allein Gerichtspräsidenten bestimmen – und ent­lassen – kann und, dass die Richter des Verfassungsgerichts in Zwangsrente geschickt und ebenfalls vom Justiz­minister allein neu bestimmt werden.

Die Haltung der Mehrheit der westeuropäischen Demokratien spiegelt sich in einem offenen Brief der Frak­tionschefs fünf der sechs größten Fraktionen im Europaparlament wider: „das Überleben von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ sei in Polen in Gefahr. Dem hält der Partiechef der PiS, Jarosław Kaczyński, entgegen, dass wer die Demokratie in Polen in Gefahr sehe, dringend zum Arzt gehen müsse. Muss hier nicht mindestens eine Seite falsch liegen? Zumindest verstehen beide Seiten nicht dasselbe unter den Begriffen „Rechts­staat“ und „Demokratie“.

Die Sicht der PiS ist dabei denkbar einfach. Wer die Mehrheit des Volkes hinter sich hat, der kann auch be­stimmen, wie es im Land zugeht – einschließlich Änderungen an der Staatsform. Und ein Rechtsstaat ist einer, in dem jegliches geltende Recht durchgesetzt wird – und in dem der Wille der Mehrheit im Handumdrehen per Gesetz zum geltenden Recht gemacht werden kann.

Die westeuropäische Sicht ist dagegen etwas zwiegespalten. Zwar legitimieren Mehrheiten Regierungen und ihr Handeln – aber Minderheiten müssen davor geschützt werden, dass die Mehrheit deren Rechte untergräbt. Darin – und in dem Grundsatz, dass jedermanns Stimme gleiches Gewicht hat – erschöpft sich meist das Verständnis von „Demokratie“. Und ein Rechtsstaat ist in dieser Sicht einer, der die Unabhängigkeit der Justiz sicherstellt und in dem vor dem Gesetz jeder gleich ist.

Hat nun die EU Recht, die laut Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans kurz davor ist, ein Verfahren nach Artikel 7 in Gang zu setzen? Oder verbittet sich die polnische Regierung zu Recht Einmischungen in ihre innere Angelegenheiten? Schließlich seien ja zum Beispiel – so die Argumentation von Polens Justizminister Zbigniew Ziobro – die Richter immer noch unabhängig – selbst wenn sie ihre Ernennung maßgeblich der Regie­rungspartei oder dem Justizminister selbst zu verdanken hätten. Und die polnische Regierung glaubt – um es in den Worten des ungarischen Minister­präsidenten Viktor Orbán zu sagen – eben nicht, dass „jede Demokratie zwangsläufig liberal“ sein muss.

Mit „liberal“ ist hier durchaus mehr gemeint als nur eine marktorientierte Wirtschaftsordnung. Entscheidend an dem Begriff ist – für beide Seiten – eine kosmopolitische Haltung mit starken Wurzeln in universalistischem Denken, in der Vorstellung, dass alle Menschen auf der Welt das Menschsein verbindet, das gleichzeitig eine universale Gleichberechtigung begründet. Und noch mehr: dass alle Menschen auf der Welt die Fähigkeit zu rationalem Denken eint. Zusammengenommen ergeben diese Ideen eine politisch brisante Kombination. Jeder kann nun im Prinzip das ethische Problem beurteilen, ob ein anderer sein Verhalten in einer Frage von gesellschaftlicher Bedeutung ändern sollte – und nicht mehr nur diese oder jene Autoritäten.

Dieses europäische, aufgeklärte Gedankengut ist es, auf das man sich bei passender Gelegenheit beruft, wenn man von „westlichen Werten“ oder ähnlichem redet. Die Konsequenzen dieses Gedankenguts – wenn man es denn konsequent und nicht nur in opportunistischer Willkür anwendet – sind nun gerade Menschen wie Kaczyński und Orbán alles andere als geheuer. Diese Konsequenzen bedeuten Kontrollverlust und eine Abkehr vom völkischen, stammeskulturell-autoritären Denken einer geschlossenen Gesellschaft, die sich gegen Neue­rungen – insbe­sondere solche im Denken, also auch jegliche Kritik – abschotten will.

Die Kritik, gegen die sich Polens Regierung gern abschotten würde, betrifft zum Beispiel Ziobros Argumenta­tion, Richter blieben doch unabhängig, auch wenn sie von ihm persönlich bestimmt würden. Die Argumentation ist dieselbe wie von einem wegen Bestechlichkeit angeklagten Beamten, dessen Verteidigung lautet: Ja, ich habe die Million angenommen, aber das hat meine Entscheidung in keinster Weise beeinflusst. Auch wenn das im Ein­zelfall sogar stimmen kann, erhöht justizministerliches Richtereinsetzen ebenso wie die Million die Wahrschein­lichkeit einer Beeinflussung doch nicht unerheblich – ganz zu schweigen von der Erpressbarkeit eines Richters, der bei Missfallen einfach entlassen werden kann. Und ebenso wie kein Rechtsstaat ohne das oberste Prinzip auskommt, keine Unschuldigen zu verfolgen, kommt eine unabhängige Justiz nicht ohne das Prinzip aus, dass jede auch nur mögliche Beeinflussung von Richtern das System untergräbt und verhindert werden muss.

So ist relativ leicht zu sehen, dass die von der PiS durchgedrückten Gesetzesänderungen nicht nur verfas­sungswidrig sind, sondern auch gegen die in Artikel 2 des EU-Vertrags genannten „europäischen Werte“ ver­stoßen, namentlich die Rechtsstaatlichkeit. Insofern ist die Reaktion auf EU-Ebene gegen die polnische Regie­rung durchaus gerechtfertigt. „Rechtsstaat“ kann nicht bedeuten, was man gerade will. Und eine unabhängige Justiz ist unerläßlich dafür, dass ein Rechtsstaat seine Prinzipien überhaupt konsequent – und nicht bloß willkürlich – verfolgen kann. Die Konsequenzen folgen notwendig aus den Prinzipien und sind in diesem Sinne objektiv – sprich: nicht abhängig von subjektiven Vorstellungen. Und das heißt: Es kann keinen „polnischen Rechtsstaat“ geben, dergrundlegend anders funktionierte als der deutsche oder der französische.

Gleiches gilt im übrigen für die „illiberale Demokratie“. Dazu gibt es deutlich mehr zu sagen als Kanzlerin Merkels blutleere Replik auf Orbán, mit diesem Begriff könne sie „nichts anfangen“. Demokratie kann nicht die Herrschaft der Mehrheit bedeuten, denn die könnte dafür stimmen, die Demokratie abzuschaffen – der Begriff würde sich logisch selbst ad absurdum führen. Demokratie ist also ohne das Messen gesellschaftlicher Entschei­dungen am Gemeinwohl nicht möglich. Und an diesen Entscheidungen soll sich jeder beteiligen können. Aber auch das würde sich ad absurdum führen, würde man nicht jedem zugestehen, zu denken und zu sagen, was er will. Diese Freiheit ist zudem ein integraler und unabtrennbarer Bestandteil der freien Persönlichkeitsentfaltung: dass jeder nach seiner Façon selig werden können soll. Freiheitliche Demokratie und Liberalität sind nicht ein­fach voneinander zu trennen.

Es ist nicht nur richtig, sondern eigentlich unerlässlich, dass andere EU-Länder Polen kritisieren und damit die Einhaltung europäischen Rechts und europäischer Werte überwachen. Allerdings ist es ebenfalls dringend geboten, eine Kultur der konsequenten aufklärerischen, liberalen Kritik in ganz Europa zu etablieren. Da wäre es dann auch wünschenswert, wenn sich zur Kritik ebenso viel Selbstkritik gesellen würde. Und Polen wäre dann ebenso aufgefordert wie Spanien oder Belgien, auf Verstöße gegen europäischer Werte in anderen Ländern hinzu­weisen. Von Frankreichs permanentem Ausnahmezustand bis zu potentiell unendlicher Präventivhaft in Bayern gibt es genügend skandalöse Beispiele. Das ist nämlich die europäische Idee: gemeinsam voneinander zu lernen und für universelle Rechte einzustehen.

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