Welche Alternativen lassen sich der Markt- und Wettbewerbsideologie entgegensetzen? Wie kann ein demokratisches und solidarisches Zusammenleben aussehen? Und wie kann man die Menschen dafür gewinnen? Der "Perspektivenkongress", an dem sich nahezu alle beteiligen, die außerparlamentarisch von Bedeutung sind, stellt sich diesen Fragen. Von Freitag bis Sonntag an der Technischen Universität in Berlin - www.perspektivenkongress.de
FREITAG: Wie geht es Attac Deutschland? Wächst die Zahl der Mitglieder immer noch exponentiell?
SVEN GIEGOLD: In der Bundesrepublik wurde Attac erst im Jahr 2000 gegründet und hat erst so richtig 2001 angefangen. Die Mitgliederzahl steigt weiter schnell, allerdings nicht exponentiell, sondern linear, mit etwa 70 neuen Mitgliedern pro Woche. Wir sind jetzt bei fast 15.000 Mitgliedern.
An diesem Wochenende findet in Berlin der sogenannte Perspektivenkongress statt. Auffallend viele Vorstandsmitglieder wichtiger Gewerkschaften nehmen teil. Haben Sie den Eindruck, dass die Gewerkschaften die sozialen Bewegungen als neuen strategischen Partner ernst nehmen?
Beim Perspektivenkongress ist ein breites Bündnis vertreten: von den Kirchen über die Gewerkschaften, die Globalisierungskritik, die Umweltorganisationen und viele andere. Und das ist eigentlich das Neue. Selbstverständlich haben sich auch bei den Gewerkschaften die Dinge verändert. Der alte Transmissionsriemen SPD-Gewerkschaften funktioniert nicht mehr. In den Gewerkschaften ist man sich zunehmend bewusst, dass Erfolge nur durch gemeinsame Mobilisierung mit anderen sozialen Bewegungen erzielt werden können. Für die Gewerkschaften ist das eine historische Veränderung. Der Perspektivenkongress ist der erste gemeinsame Schritt in diese Richtung nach den großen Demonstrationen vom 3. April.
Welche Perspektiven, die über die Verteidigung des Sozialstaats hinausgehen, bietet Attac? Braucht man nicht die eine oder andere ideelle Angriffswaffe, also einen Entwurf nach vorn? Wer nur verteidigt, kann nicht gewinnen.
Ich teile Ihre These voll und ganz, und Attac ist, um in Ihrer Sprache zu bleiben, eine solche Angriffswaffe. Wir sind ein Bündnis für die Internationalisierung von sozialer Gerechtigkeit. Das ist eine vorwärts gedachte Strategie. Wir wissen genau: Sozialstaatlichkeit lässt sich langfristig auf nationaler Ebene nicht verteidigen, zumindest nicht in dem Umfang, wie wir es gerne hätten. Um Luft zu bekommen für sozialstaatliche, ökologische und demokratische Regeln, müssen wir die Regeln internationalisieren. Unsere Forderungen, von der Tobin-Steuer über die Steuerfluchtbekämpfung bis hin zu sozialen Regeln im Welthandel, sind Teil dieser zukunftsorientierten Strategie. So war Attac immer angelegt, und genau in diese Richtung arbeiten wir auch innerhalb der Sozialstaatsdebatte.
Die Vision von Attac ist also eine globale Wirtschafts- und Sozialverfassung.
Das Ziel so zu formulieren, wäre übertrieben. Die globale Ebene wird die nationalen und europäischen Verfassungen sicher nicht ablösen können, weil einfach der Konsens auf der internationalen Ebene dafür nicht ausreicht. Aber zumindest einen Teil der sozialen Standards wollen wir internationalisieren.
Gibt es bei Attac mehrheitsfähige Ideen, die über die Reglementierung der kapitalistischen Ökonomie hinausgehen?
Wir wollen nicht, dass der Markt diktatorisch wird. Das ist der Konsens von allen, die bei uns engagiert sind. Das heißt, wir sind für stärkere soziale, ökologische und demokratische Regulierung. Ob es eine Wirtschaftsverfassung geben muss, die über die kapitalistische Marktwirtschaft hinausreicht, oder ob es genügt, eine Art sozialökologisch regulierte Variante zu haben - darüber gibt es innerhalb von Attac keinen Konsens. Wir diskutieren darüber, aber lassen uns davon nicht blockieren. Wichtig ist, dass wir unsere konkreten Forderungen vorantreiben...
... und dadurch den Zerfall in Gruppen und Sektendiskussionen vermeiden?
Auch bei uns gibt es manchmal Diskussionen, die den Charakter haben, den Sie benennen. Aber im Vergleich zu früheren Zeiten ist dieses Problem viel geringer. Wir haben ganz bewusst keine gemeinsame Ideologie, sondern teilen eben zentrale Forderungen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wie definieren Sie die Rolle von Attac mit Blick auf die Bundestagswahlen 2006? Kann es sein, dass Attac irgendwann den parteipolitischen Raum betreten oder sich an Wahlbündnissen in irgendeiner Weise beteiligen wird?
Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Innerhalb von Attac gibt es Menschen mit unterschiedlichen parteipolitischen Präferenzen. Wenn sich neue Parteien gründen oder Wahlbündnisse bilden, werden wir auch sie mit unseren eigenen Forderungen konfrontieren. Attac wurde unter anderem von den Jugendorganisationen der SPD, der Grünen und auch der PDS gegründet. Viele Parteiuntergliederungen unterstützen uns, auch wenn sie keine Mitglieder sind. Sich an Wahlalternativen direkt zu beteiligen, entspricht nicht dem Charakter von Attac.
Für viele Zeitgenossen wäre aber eine Organisation wie Attac auch bei Wahlen eine glaubwürdige Alternative.
Es gibt immer Leute, die das wollen. Aber sobald wir diesem Druck nachgeben würden, wären wir nicht mehr glaubwürdig. Wir sind ein Bündnis, mit einem gemeinsamen Konsens und einer vernünftigen Kultur der Auseinandersetzung. Wenn wir zu einer Wahl antreten würden, könnte vieles von dem, was in den vergangenen Jahren aufgebaut worden ist, sehr schnell zerstört sein. Diese Form des offenen Bündnisses ist aus meiner Sicht nicht vereinbar mit parteipolitischen Ambitionen und daher sollten wir, wenn wir den Erfolg von Attac nicht kaputt machen wollen, auch nicht kandidieren.
Was ist von Attac in den kommenden Monaten zu erwarten? Wo liegen aktuell die größten Mobilisierungschancen?
Das größte Potenzial liegt in der Verhinderung von Hartz IV, also der Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, die man Arbeitslosengeld II nennt. Da sich die politische Elite nicht einig ist, wie man das organisatorisch und finanziell umsetzen soll, gibt es Chancen, den Herrschaften gehörig in die Suppe zu spucken. Mit Hartz IV rutschen nochmals 500.000 Kinder in die Sozialhilfe. Ganze Regionen, vor allem in Ostdeutschland, werden erheblich an Kaufkraft verlieren. Die Kommunen erhalten vom Bund nicht die versprochene Entlastung und müssen draufzahlen. Weil so viele negativ betroffen sind, ist es vielleicht doch noch möglich, diesen Zug zu stoppen.
Kommt es vor, dass gewissensgeplagte Repräsentanten des Establishments sich bei Ihnen melden und fragen, ob sie - aus Sympathie zu den Anliegen von Attac - helfen können?
Ab und zu bekommen wir Anrufe dieser Art und auch Angebote, bestimmte Informationen zu beschaffen. Aber das ist kein Massenphänomen. Mein Gefühl ist, dass große Teile der jetzigen politischen Elite sich aus dem ehemals gemeinsamen Projekt Sozialstaatlichkeit verabschiedet haben. Bisher sind es nur wenige, die den Aufstand wagen, wie Heiner Geissler oder Norbert Blüm. Man wundert sich, dass es bei Menschen, deren Lebenswerk ja in gewisser Weise auch zerstört wird, nicht einen viel massiveren Aufschrei gibt. Die skandinavischen Beispiele zeigen, dass trotz des realen Globalisierungsdrucks, der ja nicht zu leugnen ist, ein ausgebauter Sozialstaat und ökonomischer Erfolg sich keineswegs ausschließen.
Das Gespräch führte Hans Thie
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