„Wir wollen 2013“, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel als Ziel ausgegeben, „eine eigene Mehrheit zusammen mit den Grünen.“ Ein Jahr nach Angela Merkels Wiederwahl zur Kanzlerin lassen Umfragen das sogar realistisch erscheinen. Doch alles bleibt in Bewegung, am Ende könnte die Linke als Dritter im Bunde nötig sein – gerade hat die Parteispitze einen Politikwechsel in den Farben Rot-Grün-Rot zum startegischen Ziel erklärt. Aber Mehrheiten sind noch keine Politik. Welchen Wert haben also Ankündigungen, Gesundheitsreform und Atomdeal würden zurückgedreht? Was hätte eine rot-grün-(rote) Koalition bei Arbeit und Außenpolitik zu bieten? Man werde nicht alles anders, aber vieles besser machen, war 1998 die Parole von Gerhard Schröder. Wie weit spannt sich der Reformhorizont im „linken Lager“ heute? Eine vorsichtige Annäherung auf vier Politikfeldern:
Gesundheit, Kassen, Ärzte
Es gibt kaum ein Thema, bei dem SPD und Grüne sich derart nahe sind wie die Gesundheitspolitik. Es taugt sogar noch dazu, die Linke zu integrieren. Das liegt daran, dass alle drei Parteien sich schon vor Jahren auf eine Idee vom gerechteren Gesundheitssystem festgelegt haben, die angesichts der zu erwartenden Widerstände der Lobbys oft genug als billige Utopie bezeichnet wird: die Bürgerversicherung.
Natürlich müsste auch die Koalition der Bürgerversicherer Abstriche zugunsten von grundgesetzlichen Beamtenprivilegien und noch Jahrzehnte geltenden Versicherungsverträgen machen. Doch wäre ihre Glaubwürdigkeit an mindestens einem Kriterium zu messen: Die Grenzen zwischen dem Reich der Vorzugsbehandlung für zehn Prozent Privatversicherte und der Krankenkassenwelt für die 90 Prozent Sonstigen müssten erkennbar aufgeweicht werden.
Einigkeit kann das rot-grün(-rote) Lager dazu wahrhaftig gebrauchen: Denn die Versicherungskonzerne werden alles, wirklich alles tun, um ihr Geschäftsfeld zu verteidigen. Auch werden sie die SPD-Rechte mit Vorschlägen zu gewinnen suchen, die nach außen nach Bürgerversicherung aussehen, im Innern die bestehende Unwucht zu Lasten der Schwachen jedoch eher verstärken dürften.
Die Ärzte werden für einen historischen Systemumbau nur zu gewinnen sein, wenn sie damit mehr Geld verdienen, wenn also etwa die Ärztevergütung insgesamt auf „Privat“-Niveau gehoben wird. Den Versicherten könnte dies schwer zu erklären sein. Es erleichtert die Sache nicht, dass fast alle Meinungsführer der Republik privat versichert sind.
Unfrieden wird die Bürgerversicherung ins Lager höchstens dann tragen, wenn die Grünen Ernst damit machen sollten, der SPD die Hoheit über das Gesundheitsthema wieder abzujagen. Dieses Problem wird mit der Besetzung des Ministerstuhls 2013 aber geklärt. Die Linkspartei denkt arbeitsteilig: Sie sieht ihre Aufgabe eher in der Vertretung von Krankenhauspersonal und hält sich aus dem Streit ums beste Konzept – bislang – heraus.
NATO, UNO, Bundeswehr
„Rot-Rot-Grün in der Außen- und Sicherheitspolitik“, fragte sich unlängst der SPD-Politiker Peter Bartels, „passt da was?“ Die Antwort ist wenig überraschend: Wo Bartels auf der einen Seite bloß „Auskunftsverweigerung“ der „Postkommunisten“ erkennt, wird die rot-grüne Bilanz von Kosovo über Irak bis nach Afghanistan „weit überwiegend“ erfolgreich genannt. Dass es gerade die Außenpolitik dieser Regierung war, die beträchtliche Teile der eigenen Wählerschaft zur Flucht trieb, fällt aus der Perspektive des Verteidigungsausschusses, dem der SPD-Mann angehört, offenbar nicht so sehr ins Gewicht.
Denn die Fronten führen und führten in wichtigen Fragen weniger zwischen den Parteien entlang als durch sie hindurch: Für einen schnellen Abzug aus Afghanistan und eine kritische Behandlung der Grundsatzfrage, ob sich Deutschland überhaupt an solchen Einsätzen beteiligen soll, plädierten auch schon SPD-Ministerpräsidenten. Bei den ursprünglich aus der Friedensbewegung kommenden Grünen führt die Außenpolitik immer wieder zu heftigem Schlagabtausch. Und in der Linken hat sich zuletzt auch nicht mehr jeder Abgeordnete der totalen Absage an Bundeswehr-Beteiligungen an UN-Missionen unterworfen.
Eine „Übergabe der Verantwortung“ in Afghanistan ist für 2015 vorgesehen, die Forderung nach einem Abzug der Bundeswehr also für sich genommen kein Streitpunkt mehr. SPD und Grüne werden sich wie schon 1998 auf die Fortentwicklung der Grundlinien bisheriger deutscher Außenpolitik und Bündnistreue einigen können, auch bei UNO-Reform und ziviler Konfliktbewältigung sind rot-grüne Formulierungen vorgezeichnet. Bei der Abschaffung der Wehrpflicht liegen Grüne und Linkspartei sogar näher beieinander. Ob das aber überhaupt noch zur Frage rot-grün(-roter) Koalitionsgespräche wird, hängt – eine Mehrheit vorausgesetzt – davon ab, wie weit die aktuelle Regierung mit dem Ausstieg aus der Wehrpflicht kommt.
Arbeit, Rente, Hartz
Wenn von einem „linken Lager“ die Rede ist, konzentrieren sich künftige Erwartungen wie zurückliegende Enttäuschungen vor allem auf zwei Bereiche: die Zukunft der Arbeit und der sozialen Sicherung. Als brisante Lage zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht hat Oskar Negt den diesbezüglichen Umbruch charakterisiert und zu mutiger Phantasie aufgefordert: Kosmetische Korrekturen reichten nicht mehr aus.
Ob eine neue rot-grün(-rote) Koalition allerdings zu mehr als solchen Korrekturen im Stande ist, steht dahin. Zwar gibt es Gemeinsamkeiten: Ausweitung eines sozialen Arbeitsmarktes, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, mehr Mitbestimmung werden von allen drei Parteien gefordert. Auch neue Beschäftigung durch öffentliche Investitionen in soziale und ökologische Branchen gehört zu den Zielen von SPD, Grünen und Linken. Der dringende, teure und teils visionär beschworene „große Umbau“ aber wird 2013 nicht im Zentrum stehen. Anhänger des Grundsäzlichen könnten enttäuscht sein festzustellen, dass eine Mitte-Links-Koalition sich eher mit der Verwaltung der Probleme von Hartz-IV- und Rechtensystem befassen wird.
Eine Aussetzung der Rente mit 67 ist Minimalkonsens, wenn auch die Grünen die Rente mit 67 für „nachhaltig“ halten. Dann aber beginnt das – vom Wähler so empfundene – Klein-Klein aus Bundeszuschüssen, die Schwarz-Gelb kürzen will, und irgendwie modifiziertem Einstieg in eine Erwerbstätigenversicherung. Der Linken gilt ein Stopp der Rente mit 67 ebenso als „rote Linie“ wie die Überwindung von Hartz IV, die von der SPD schon aus Erbe-Gründen abgelehnt wird. Kompromiss in Sicht? Die Grünen schlagen eine Grundsicherung vor, was die Linke – die im Falle des Falls wohl das Arbeitsministerium erhielte – nicht leicht abwehren kann: Aufhebung der Bedarfsgemeinschaften, Sanktionsmoratorium, Anhebung der Regelsätze auf zunächst 420 Euro.
Atom, Energie, Netze
Wenn sich SPD und Grüne in ernergiepolitischen Fragen derzeit recht weit aus dem Fenster lehnen, wenn ein ehemaliger Umweltminister wie Sigmar Gabriel verspricht, „jede SPD-Regierung“ werde Angela Merkels Atomdeal rückgängig machen und ein anderer Ex-Ressortchef, nämlich Jürgen Trittin, der schwarz-gelben Koalition die „Konterrevolution“ nicht durchgehen lassen will, dann auch deshalb, weil bei diesem Thema ziemlich viel Einigkeit besteht – sogar mit der Linken.
Ende August hatten Umweltminister der drei Parteien aus acht Bundesländern in einer gemeinsamen Kritik die Energiepolitik zur „Richtungsfrage“ erklärt. Die bis dato einmalige Kooperation kann zugleich als rot-grün(-rote) Arbeitsskizze gelesen werden: Erneuerbare Energien, modernste Kraftwerkstechnik, CO2-reduzierende Wachstumsmärkte, Netzausbau, effiziente Wärmeversorgung, neue Beschäftigung. Die Isolation von Schwarz-Gelb und der vier großen Stromerzeuger, die sich zeigte, als deren Zeitungswerbung für die atompolitische Rolle rückwärts nicht einmal die Unterstützung eines Konzerns wie Siemens fand, mag als weiterer Vorteil betrachtet werden. Viele Unternehmen setzen heute selbst auf die grüne Welle, und Erneuerbare Energien sind längst zu einem Machtfaktor geworden.
Die Einigkeit in der Ablehnung von Schwarz-Gelb verdeckt jedoch manche Differenz zwischen SPD und Grünen, etwa in der Kohlepolitik. Und auch die symbolische Versöhnung mit der Anti-Atom-Bewegung wie zuletzt bei der „Flutung“ des Berliner Regierungsviertels, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der rot-grüne Atomausstieg von 2001 selbst nur ein viel kritisierter Kompromiss war und eine rot-grün(-rote) Regierung bei einem Neustart der Suche nach einem Endlager für Atommüll, die alle drei Parteien anstreben, auf den Widerstand der betroffenen Länder treffen wird.
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