Den Hund begraben

Russland Eine kleine Geschichte aus der Peripherie

Eigentlich ist es eine stinklangweilige Geschichte: Da lebte die Familie Prokofjew im Moskauer Stadtbezirk Butowo. Eine Mutter und ihr erwachsener Sohn in einer windschiefen Bretterbude. Doch immerhin hatten sie ein eigenes Dach über dem Kopf. Dazu noch ein paar Quadratmeter Grundstück.

Butowo, muss man wissen, war einst ein Dorf, bis sich die gewaltige Megapolis Moskau unaufhaltsam heranfraß. Und so kam der Augenblick, da die Stadt mit dem Wohnungsbau ausgerechnet auf dem Grund und Boden beginnen wollte, auf dem die Dorfhütten standen, samt und sonders bewohnt freilich. Die Stadtoberen sagten: "Wir klären das ehrlich. Die Leute bekommen eine Wohnung in einem Plattenbau, mit allem Komfort versteht sich." Manch einer tanzte vor Freude und willigte ein. Andere, so auch die Familie Prokofjew, legten sich quer. Wir wollen nicht umziehen. Wir wollen in der Nähe der Gräber unserer Angehörigen bleiben.

So wurde es ein echt russisches Sujet. William Shakespeare hat damit wahrlich nichts zu tun, aber die Moskauer Gewaltigen vermochten aus der kleinen Geschichte einen Thriller zu stricken. Wie sonst sollten die Live-Schaltungen des Fernsehens aus Butowo verstanden werden? Der Atem stockte, als man sah, wie Spezialeinsatzkräfte der Miliz - fast mit dem Ruf "Für das Vaterland!" auf den Lippen - grimmig die brüchige Barrikade vor dem Haus der Prokofjews im Sturm nahmen. Die Leute brachen in Schreie aus. Ihnen wurden die Hände gebunden. Hysterie, wohin man sah. "Was? Sie drohen mir?" Mehr konnte die junge Gerichtsvollzieherin angesichts der Ermahnungen des allseits bekannten Rechtsanwalts Anatoli Kutscherena, den Gewaltangriff abzublasen, nicht sagen.

Denn ganz blauäugig sind sie freilich nicht, unsere Freunde aus Butowo. Sie wissen sehr gut, dass schon gegen Ende des Jahres, wenn alle Entscheidungen der Duma zur Privatisierung von Grund und Boden unter Dach und Fach sind, ihre Grundstücke Millionen Dollar wert sind. Und zwar nicht weniger als die Grundstücke derer, die einst für ein Apfel und ein Ei ganze Latifundien am glamourösen Westrand von Moskau aufkauften.

Und da liegt der Hund begraben. Das ist der Schlüssel, um die kleine Geschichte aus Butowo zu verstehen. Russland ist heute nicht mehr die Sowjetunion; und die Leute sind nicht mehr der homo sovieticus. Milde Gaben von oben werden nicht mehr hingenommen. Die Philosophie, ihr beglückt uns mit einer Neubauwohnung, und wir sind entzückt, gehört der Vergangenheit an. Wenn auch unter Ächzen und Stöhnen, setzt sich in den Köpfen eine neue Lebenssicht fest. Man will keine Gaben, sondern Angebote. Und wenn die Angebote dann auch noch Recht und Gesetz entsprechen, dann sind die Menschen einverstanden: auf dem Boden des Gesetzes und nach den Regeln der Marktwirtschaft. Etwas Drittes gibt es nicht. Das Dritte sind prügelnde Milizionäre, zerschlagene Blumentöpfe, Ärger und Aufruhr.

Ganz ehrlich, in diesem Moment begann ich, die Justiz zu schätzen. Gewiss, Anwalt Anatoli Kutscherena ist kein Jemeljan Pugatschow. Er ist gut eingebaut in das System der Gewichte und Gegengewichte. Doch die Logik des Lebens selbst und seine Berufswut haben ihn mit dieser Episode in den Vordergrund katapultiert, um Recht und Gesetz zu verteidigen. Er steht in einem Konflikt an vorderster Stelle, in dem die Mächtigen alles mit Gewalt bereinigen wollen - und ein einziger Mann sich widerborstig zeigt und der Gewalt trotzt.

"Wir werden den Leuten von Butowo helfen, ihre Rechte durchzusetzen. Wir bestehen darauf, dass die Behörden den Dialog aufnehmen", sagte Kutscherena. Das wiegt schwer. Und selbst wenn er den Kürzeren ziehen sollte und die Prokofjews auf Gerichtsbeschluss ihre Bretterbude räumen müssen, um sie dem Bulldozer zu überlassen - die Gesellschaft hat begriffen. Polizeieinsatz ist nicht immer gleich Recht und Gesetz. Gesetz kommt von Justitia.

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