Schindlers Liste ist wahrscheinlich die inspirierendste Erfahrung meines Filmschaffens gewesen. Als ich den Film im polnischen Krakau drehte, gab es viele Überlebende, die jene Geschichte selbst erlebt hatten, die wir dort drehten. Viele von ihnen baten mich zwischen den Aufnahmen, ihren Geschichten zuzuhören, von ihren Verletzungen, ihrer Trauer und ihrer Rückkehr nach dem Holocaust. Und ich dachte mir, je mehr Überlebende wir auf Video dokumentieren könnten, desto größer würde vielleicht das Interesse der Welt zurückzublicken. Wir können nicht wirklich in das 21. Jahrhundert eintreten, ohne unsere eigene kollektive Vergangenheit umfassend zu akzeptieren. Deshalb habe ich die Stiftung ins Leben gerufen.«
Das sagt der US-amerikanische Regisseur und Produzent Steven Spielberg. Lange Zeit sah die Öffentlichkeit in ihm nur den Filmtycoon, doch seit Schindlers Liste hat sich dieses Image gewandelt. Jetzt vergleichen ihn viele mit den großen Philantropen der US-amerikanischen Geschichte - ein Ruf, den Spielberg sich nicht nur durch seine generöse Spende für ein D-Day-Museum in der Normandie erworben hat, sondern auch und vor allem durch die Gründung seiner Stiftung »Survivors of the Shoah - Visual History Foundation«.
Da überrascht es kaum, daß Spielberg die Stiftung mittlerweile als sein wichtigstes berufliches Projekt betrachtet - ein Vorhaben, das die wohl schillerndste Figur der Traumfabrik in Hollywood 1994 mit seinem Millionenerlös aus Schindlers Liste ins Leben gerufen hat. Der Film habe ihn gezwungen, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen, sagt Spielberg von sich selbst.
Als Sohn ausgewanderter russischer Juden wächst er in Phoenix/Arizona auf. Seine Klassenkameraden verspotten ihn als Judenbengel. Daß er Jude ist, bereitet ihm Pein, er braucht ein halbes Leben, bis er sich dieser vorgeblichen Scham zu entledigen weiß. Als Jugendlicher interessiert er sich nicht für seine Wurzeln, die Judenvernichtung ist im Elternhaus ein Tabu. Erst als Erwachsener beginnt er den Talmud zu lesen, seine Kinder läßt er heute religiös erziehen.
Dem Schweigen der wenigen Geretteten eine Stimme zu geben, das will Spielbergs Shoah-Foundation. Dafür sammeln ihre Mitarbeiter weltweit mündliche Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Später sollen diese auf Video aufgezeichneten Berichte in einem Multimedia-Archiv der Nachwelt überliefert werden und jederzeit per Mausklick am Computer online abrufbar sein. »Unsere Anstrengungen sind einerseits historisch orientiert, zum anderen aber auch moralischer und visueller Natur«, sagt Stiftungsleiter Michael Berenbaum, eine anerkannte Autorität für Judaistik und ehemaliger Direktor des Holocaust Momorial Museums in Washington. »Sie haben einen moralischen Sinn, weil die Nazis eine Entmenschlichung anstrebten: Sie nahmen den Opfern ihren Namen und ihre Identität. Wir geben den Opfern ihren Namen, ihre Identität und ihre Geschichte zurück. Steven Spielberg hat der Welt gezeigt, welche Macht das Geschichtenerzählen hat. Es ist das grundlegendste Mittel, um Erinnerung weiterzugeben.«
Das deutsche Koordinationsbüro der »Survivors of the Shoah« hat bereits im Dezember 1995 seine Arbeit aufgenommen - ein gutes Jahr nach dem Start des Projektes in den Vereinigten Staaten. Das Büro liegt mittlerweile in Berlin, in der Nähe des ehemaligen »Check Point Charlie« und wird demnächst als Zentrale der Stiftung für ganz Europa fungieren. Am Hauseingang: kein Türschild, das Auskunft gibt über den Mieter. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Hier werden die Termine zwischen den Interviewern und den Überlebenden vereinbart. Hier werden die Kamerateams zusammengestellt, die die Geretteten meist zu Hause filmen - jene, die aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern befreit wurden, die sich versteckt hatten oder mit falscher Identität in Nazi-Deutschland überlebten. »Die Shoah-Foundation hat bisher 50.100 Zeugnisse gesammelt, in 31 Sprachen, aus 57 Ländern«, so Berenbaum. »Wir haben sie in einem Zentralarchiv gesammelt, das im Kern aus 115.000 Stunden Interviews besteht. Anders ausgedrückt: Wenn man sich heute hinsetzen würde und 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche, sich ausschließlich die Videos anschauen würde, dann wäre man erst Mitte des Jahres 2012 damit fertig.«
Vor jedem Interview beantworten die Zeitzeugen in einem Vorgespräch Fragen zu ihrem Lebenslauf. Diese Informationen dienen als Grundlage für das eigentliche Videointerview, mit dem sie später zur Auswertung an das Stiftungshauptquartier in Los Angeles geschickt werden. Die aus aller Welt eingeschickten Videokassetten mit den Zeugnissen der Überlebenden werden hier gesammelt, kopiert und mit Landkarten, Stichworten und zusätzlichen Dokumenten für die spätere Nutzung aufbereitet. In dieser US-Zentrale laufen auch die Fäden der weltweit 21 Büros zwischen Moskau und Sao Paulo, Athen und Mexiko City zusammen. Langfristig sollen die Interviews in digitalisierter Form zunächst an fünf Orten der Öffentlichkeit zugänglich sein. Unter anderem im Fortunoff-Videoarchiv der Yale-University, im Museum of Jewish Heritage New York, in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, dem Holocaust-Museum in Washington und dem Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles.
Bislang ist es Spielberg auf zahllosen Veranstaltungen gelungen, viele Millionen Dollar für diese Dokumentationsarbeit zu sammeln. Als Anerkennung für ihre Spender vergibt die Stiftung Gold-, Silber- und Bronzeauszeichnungen. Wie auch jetzt in Berlin, als die Verlage Springer, Bertelsmann und Burda ihre Initiative »Wir alle, weltweit, müssen ein sichtbares, aktives Bekenntnis abgeben zu Demokratie, zu Toleranz und zu publizistischem Binnenpluralismus«, ließ Thomas Middelhoff, Vorstandsvorsitzender von Bertelsmann, auf der Pressekonferenz in einer technizistisch-gestelzten Sprache die Öffentlichkeit wissen, »wenn wir denn schon Steven Spielberg hier haben, dann sollte man seine Ausstrahlung, seine Wirkung auch nutzen, um eine solche Botschaft zu transportieren. Ansonsten ist es wichtig für uns zu überprüfen: Tun wir genug, um einen solchen Ansatz von Spielberg zu unterstützen?« Bislang wohl zu wenig, denn auch Middelhoff müßte wissen, daß es in Deutschland eine Unzahl von Geschichtswerkstätten und Organisationen gibt, die seit langem in »oral history«-Projekten Aussagen von Überlebenden sammeln und die man ebenfalls hätte unterstützen können. Trotz der achtenswerten Spende von rund 2,6 Millionen Mark bleibt ein Unbehagen: daß die Unterstützung der Shoah-Foundation durch die Verlage auch deshalb erfolgt, um den berühmten Namen Steven Spielberg medienwirksam für sich nutzen zu können.
Zuvor hatte Spielberg ebenfalls in Berlin und danach in New York die erste aus den Interviews und Recherchen der Stiftung hervorgegangene Unterrichts-CD-Rom vorgestellt: »Testimonies of the Holocaust«. Für Spielberg sind die Berichte und Bilder des Archivs »lebende Dokumente«, und gerade deshalb würden sie sich dafür eignen, einer zunehmend audiovisuell orientierten Jugend die »Interaktion mit der Vergangenheit« zu ermöglichen. Damit könnten sich Technologie und Toleranz verbinden, so der Pädagoge Spielberg, der dabei ganz auf die Macht der Bilder setzt: »Ich möchte gern, daß einige dieser Informationen auf den Datenbahnen der Zukunft Lehren über Toleranz beinhalten. Dies bezieht sich nicht nur auf den Holocaust, sondern ebenso auf den amerikanischen Völkermord an den Ureinwohnern, die Menschenrechte, die Geschichte der Schwarzen, wie auch auf die Diskriminierung der Homosexuellen. Wir müssen die Ursachen des Holocaust erforschen. Wir müssen aber auch herausfinden, was 1994 in Ruanda passierte, als eine halbe Million Morde innerhalb von hundert Tagen geschahen.« Ob sich die Dokumente der überlebenden Opfer und ihre Geschichte dem aufklärerischen Lernziel Spielbergs unterwerfen lassen, das muß bis zur freien Zugänglichkeit des Archivs offen bleiben. Gleichwohl gibt es schon jetzt eine Reihe von Einwänden gegen die Shoah-Foundation.
Vorwurf eins: Geschichte begreifbar zu machen, das sei keine Frage der Quantität. Persönliche Dramen, zu Tausenden online abrufbar, das mache den organisierten Massentod zur Massenware. Nur mit einem strukturgeschichtlichen Ansatz sei die Dimension der nationalsozialistischen Judenvernichtung faßbar.
Vorwurf zwei: Spielberg betreibe mit der geplanten CD-Rom die »Hollywoodisierung« der Shoah. Wieder einmal folge Hollywood überwältigungsästhetischen Konzepten, um sich so auf naive Weise alles anzueignen, selbst das Unsagbare.
Vorwurf drei: Die Foundation und ihre Interviewer würden sich durch eine historisch oberflächliche und pädagogisch fahrlässige Haltung beim Umgang mit Zeitzeugen und ihren Erinnerungen auszeichnen.
Vorwurf vier: Die Foundation würde Betroffenheit und Trauer didaktisch umzusetzen versuchen. Kritiker halten dagegen, daß Trauer gerade nicht pädagogisierbar sei. Die unbedachte Umsetzung von Trauerarbeit in Lehren für die Gegenwart funktionalisiere die Opfer erneut - wenngleich für die gute Sache. Stiftungsleiter Michael Berenbaum hält dagegen: »Trauer ist die Aufgabe der einen Generation, Erziehung die Aufgabe einer anderen. Ich denke, einer der Gründe, warum Spielberg in Deutschland Gehör findet, liegt in seinem intuitiven Verständnis dafür, daß es wahrscheinlich keinen Weg gibt, mit dieser Vergangenheit zur Ruhe zu kommen. Alles, was uns verbleibt, ist die Zukunft. Was daher die Vermittlung durch Erziehung angeht, ist ihre Aufgabe, daraus zu lernen und die Zukunft umzugestalten.«
Trauer kann die Toten weder lebendig machen, noch ihrem Tod im Nachhinein einen Sinn verleihen, und sei es auch für die »gute Sache« der Nachgeborenen. Trauer-Arbeit als pädagogisches Lernziel wie von der Shoah-Foundation verstanden, birgt die Gefahr, die Opfer dem politischen Lernziel zu unterwerfen. Aber genau darin liegt der problematische Kern: Der pädagogische Diskurs fürchtet sich vor der Sprachlosigkeit, dem Schweigen, dem Nicht-in-Erkenntnis-Umsetzbaren. Trauer läßt sich nicht vereinnahmen, aus ihr können keine Lehren gezogen werden: »Es ist sicher das Schwierigste für einen Überlebenden, über den Holocaust zu sprechen«, sagt Steven Spielberg, der sich dieser Ambivalenz von Sprechen und Schweigen durchaus bewußt ist, »außer den Interviewten gab es mindestens 60.000, die nicht mit uns reden wollten, die sich entschieden haben, niemals mehr darüber zu sprechen, was mit ihnen geschah, und die mit ihrer Erinnerung alleine sterben wollen. Das ist ihre persönliche Entscheidung.«
Auschwitz ist beschreibbar, aber nicht verstehbar. Nur in dem Versuch, die Vergeblichkeit des Verstehens zu verstehen, könnte das Geschehen ermessen werden. Und steckt nicht in dem Anspruch auf vollständige Erkennbarkeit und Digitalisierung der Augenzeugen-Interviews auch die Angst, die Massenvernichtung könne sich eben nicht als Pathologie der Moderne erweisen, sondern geradezu als ihre Vollendung? Auschwitz stünde dann als Synonym für eine moderne Gesellschaft, in der sich zwei so gegensätzliche Elemente des Denkens wie bürokratische Pflichterfüllung und Nihilismus auf mörderische Weise harmonisieren konnten. Gegenüber dem italienischen Schriftsteller und Chemiker Primo Levi faßte dies einer der SS-Männer in Auschwitz ebenso knapp wie zynisch zusammen: »Hier ist kein Warum.«
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.