FREITAG: Keine NGO, kein Verein, keine politische Partei - was ist Attac eigentlich? ASTRID SCHAFFERT: Ich denke, Attac ist tatsächlich etwas Neues. Zum einen sind wir natürlich Teil der globalisierungskritischen Bewegung, die zwar noch nicht global, aber zumindest international agiert. Zu unserem Netzwerk gehören über neunzig Organisationen - von christlichen Arbeitskreisen über entwicklungspolitische, feministische, gewerkschaftliche Gruppen bis hin zu Menschenrechts-, Umwelt- und Friedensorganisationen, die alle Mitglied bei Attac sind.
Viele dieser Gruppen gab es vorher schon jahrelang - ohne dass sie auf ein vergleichbar breites gesellschaftliches und mediales Interesse gestoßen wären.
Ich denke, wir sind mit unseren Inhalten in ein politisches Vakuum gestoßen, weil wir Gerechtigkeits- oder Ökologiefragen nicht nur in Bezug auf die Dritte Welt stellen, wie es die Solidaritätsbewegung tut. Oder wie die Gewerkschaften nur den nationalen Rahmen abdecken. Wir haben erkannt, dass es zwei Seiten derselben Medallie sind und man beides im Blick haben muss: Die zunehmende Ausbeutung der Entwicklungs- durch die Industrieländer ist genauso eine Folge der neoliberalen Globalisierung wie die wachsende soziale Ungerechtigkeit in den Industrieländern selbst.
Seit den Protesten in Genua gibt es ja geradezu einen Run auf Attac. Hat das die Strukturen verändert?
Die Zahl unserer Mitglieder hat sich im letzten Jahr verzwanzigfacht. Seitdem kommen jede Woche ungefähr 140 neue Mitglieder dazu. Viele andere sympathisieren und engagieren sich für Attac, ohne Mitglied zu sein, so dass wir mittlerweile 120 regionale Attac-Gruppen haben, in denen Leute sich treffen, informieren, gemeinsame Aktionen planen. Im Mai haben wir deshalb einen wissenschaftlichen Beirat und den Attac-Rat gegründet, der sich in Zukunft stärker mit strategischen Fragen beschäftigen soll. Genauso wie im bundesweiten Koordinierungskreis sind dort Vertreter der Regionalgruppen, der Mitglieds-Organisationen, aller bundesweiten Arbeitsgruppen und Kampagnen eingebunden. Das ist der Versuch, das größer werdende Netzwerk inhaltlich und organisatorisch zusammenzuhalten.
Attac ist vor allem bekannt geworden durch die Forderung nach Einführung der Tobin-Steuer. Mittlerweile hat sich das Themenspektrum erheblich ausgeweitet. Wer bestimmt, womit sich Attac beschäftigt?
Vieles ergibt sich aus der Sache selbst: Die Kritik an den deregulierten Finanzmärkten ist für uns zentral, weil sie so etwas wie der Motor sind. Gleichzeitig muss man aber sehen, dass die neoliberale Globalisierung vielfältige Auswirkungen hat - etwa was die öffentliche Daseinsvorsorge angeht. Es macht deshalb wenig Sinn, sich auf die Forderung nach Regulierung der Finanzmärkte zu beschränken, während verdeckt von der Öffentlichkeit die GATS-Verhandlungen laufen, bei denen es um die Privatisierung so zentraler Bereiche wie der Gesundheit, der Bildung oder der kommunalen Wasserversorgung geht.
Im Wahlkampf spielen solche Themen bislang keinerlei Rolle.
Das ist ein Grund, warum wir für den 14. September zu einer Großdemonstration in Köln mobilisieren: Wir wollen dort in großer Breite zeigen, dass wir weiter streiten müssen. Denn egal, wer am 22.9. die Wahlen gewinnt, es gibt keine Partei, die unsere Forderungen wirklich glaubhaft umsetzen möchte.
Immerhin hat sich der Deutsche Bundestag unter Rot-Grün als erstes Parlament der Welt sehr ausführlich mit den Auswirkungen der Globalisierung befasst. So heißt es im Bericht der Enquetekommission: "Der Schutz der öffentlichen Güter darf nicht der Logik von Privatisierung und Profitinteressen überlassen werden." Deckt sich das nicht sehr weitgehend mit den Forderungen von Attac?
Das ist in der Tat schizophren. Selbst der Bundespräsident hat sich ja einige unserer globalisierungskritischen Forderungen zu eigen gemacht. Guckt man sich jedoch die konkrete Politik unter Rotgrün an, dann ist unsere Regierung weiterhin ganz massiv am Liberalisierungskurs beteiligt. Zum Beispiel bei den GATS-Verhandlungen, wo am 30. Juni die Marktöffnungsforderungen der EU an die anderen WTO-Länder eingereicht werden mussten. Die EU-Kommission hat dort von den USA gefordert, ihren höheren Bildungsbereich für ausländische Anbieter zu öffnen, und 109 WTO-Mitgliedsländer aufgefordert, den Wasser- und Energiesektor für die Privatisierung zu öffnen - die rot-grüne Bundesregierung hat dem nicht widersprochen.
Die malayische Aktivistin Lim Li Ching hat die TeilnehmerInnen der Sommerakademie aufgefordert, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit sie den Konsens der Industriestaaten aufkündigt. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass GATS doch noch verhindert werden kann?
Es gibt diese "Vampir-Strategie", wie Susan George es genannt hat. Verträge wie das GATS werden ja nicht umsonst geheim verhandelt. Wenn man sie ans Licht der Öffentlichkeit bringt, stehen die Chancen gut, dass der öffentliche Druck ausreicht, um die Regierungen zum Umschwenken zu bewegen. Das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), das das Recht von Investoren über die Arbeits-, Umwelt- und Sozialgesetze der einzelnen Staaten stellen sollte, wurde beispielsweise Ende der Neunziger Jahre auf diese Weise gekippt, weil sich die französische Regierung aus den Verhandlungen der OECD zurückgezogen hat. Voraussetzung ist natürlich der politische Druck von außen. Dieser muss noch erheblich stärker werden. Dafür brauchen wir Großveranstaltungen wie die Demo am 14.9., aber auch stärker konfrontative Aktionen - Attac muss mehr sein als eine alternative Volkshochschule.
Das Gespräch führte Karin Nungeßer
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