Moon Jae-in muss mit dem politischen Personal der alten Regierung vorliebnehmen und trotzdem versuchen, eine neue Politik zu betreiben. Das bleibt dem neuen südkoreanischen Präsidenten nicht erspart. Die Erwartungen sind hoch, nicht minder die Insolvenzen, Haushaltsdefizite und Korruptionsfälle, die Selbstmordrate und Jugendarbeitslosigkeit. Dieser Staatschef muss versuchen, das verhängnisvolle Geflecht zwischen den von Familien geführten monströsen Firmenkonglomeraten (Chaebols) und der Politik zu entwirren. Die Einkünfte der fünf größten Chaebols bestreiten die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, sie sind nicht nur systemrelevant, sondern daran gewöhnt, Interessen durchzusetzen und auf die Assistenz der Politik zu
zu rechnen. Moon fehlt zudem eine Mehrheit im Parlament. Auch wenn seine Fraktion die stärkste ist, über eine Majorität der Mandate verfügt sie nicht. Es gilt für Politiker in Südkorea als clever, zum richtigen Zeitpunkt die Partei zu wechseln. Ist keine aufnahmebereit, wird eine neue gegründet.Innenpolitik hatte im Wahlkampf Vorrang und das trotz verschärfter Spannungen auf der Halbinsel, die gerade durch einen weiteren nordkoreanischen Raketentest genährt wurden. In seiner langen Geschichte wurde Korea oft von einer Großmacht dominiert oder Großmächte kämpften gegeneinander um Einfluss. Das Land war zumeist fremdbestimmt; die Teilung in zwei antagonistische Staaten vergrößerte die Abhängigkeit von externen Mächten. Umso mehr sollte – orientiert an der Ostpolitik Willy Brandts – in den Jahren 2000 bis 2008 die „Sonnenscheinpolitik“ das Verhältnis zwischen Nord und Süd entkrampfen: friedliche Koexistenz, Austausch und Wiedervereinigung, das waren die drei großen Schritte, die Kim Dae-jung, damals Präsident Südkoreas, vorschwebten. Es gab zwei Gipfeltreffen und pro Jahr gut 360 Begegnungen unterschiedlichster Art – doch das ist vorbei. Nordkorea wurde nach 9/11 von den USA zum Teil einer „Achse des Bösen“ erklärt, worauf der Norden mit forcierter Nuklearrüstung reagierte.Viele meinen, die „Sonnenscheinpolitik“ sei zu Recht gescheitert. Man habe dem Norden alles gegeben, der sich dafür mit dem Bau von Raketen revanchiert habe. In der Tat scheint Pjöngjang nach dem Credo Kaiser Wilhelms II. zu verfahren: viel Feind, viel Ehr. Das Regime gehorcht einer Festungsmentalität, sieht sich seit Jahren akut bedroht und meint, nukleare Abschreckung sei unerlässlich, um zu überleben. Die US-Interventionen im Irak 2003 und in Libyen 2011 oder jüngst die Superbombe auf Afghanistan werden als Beweis für die Notwendigkeit eigener Rüstung gewertet. Unter diesen Umständen wird sich niemand in Südkorea zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für eine Rückkehr zur „Sonnenscheinpolitik“ durchringen; Präsident Moon schon gar nicht. Zwar wurde er im Süden geboren, aber seine Eltern kamen als Flüchtlinge aus dem Norden, das allein schon macht ihn für die Rechtsparteien verdächtig, die ihn für einen gefährlichen oder naiven Linken halten. Moon muss diesen Stimmungen Rechnung tragen, will er sich nicht demontieren.Deutschland konnte 1990 auch deshalb wiedervereinigt werden, weil sich die Zweistaatlichkeit in einem Europa der Konvergenz überlebt hatte. In Korea hingegen scheint die Teilung – wenn sie nicht außer Kontrolle gerät – noch nützlich zu sein. China möchte Nordkorea als Pufferstaat am Leben erhalten, die USA nutzen die Spannungen für den Ausbau ihrer Position in Nordostasien, woran China kein Interesse hat. Japan kann mit den nordkoreanischen Raketen seine Aufrüstung und Vorwärtsstrategie rechtfertigen, was wiederum in Seoul und Pjöngjang gleichermaßen auf Ablehnung stößt.Chinas BündnisgarantieIm Süden mehren sich Stimmen, man brauche ebenfalls eine eigene Atombombe. Kurz vor der Präsidentenwahl beeilten sich die USA mit der Aufstellung eines Raketenabwehrsystems (THAAD), um dem Einspruch eines womöglich „linken Präsidenten“ zuvorzukommen. Es handelt sich um ein Abwehrsystem, das China mit einigem Recht als auch gegen sich gerichtet betrachtet.Doch liegt in der derzeitigen Eskalation auch eine Chance für Präsident Moon. China hat 1961 eine Bündnisgarantie für Nordkorea übernommen, doch verpflichtet der entsprechende Vertrag beide Seiten, gemeinsam für Sicherheit in der Region zu sorgen. Wenn sich in Peking der Eindruck verfestigt, die Führung in Pjöngjang gefährde die regionale Stabilität, könnte die Bündnistreue ihren Automatismus verlieren. Warum sollte Pjöngjang dann nicht nach anderen Partnern Ausschau halten und auf Präsident Moon stoßen? Der könnte die Initiative ergreifen und schnell einen umfassenden Plan vorlegen, den der Norden nicht ablehnen kann, weil seine Sachzwänge ausreichend berücksichtigt werden. Natürlich wäre ein Abgleich mit den USA und China unerlässlich. Tief sitzendes, oft berechtigtes Misstrauen überwiegt, denn allen Beteiligten fehlt die Erfahrung mit positiver Interdependenz. Vielleicht ist Donald Trump gerade wegen seiner unkonventionellen Vorgehensweise hier ein unvermuteter Partner für Moon Jae-in.