Denkende Fußballer

A–Z Pep Guardiola las gerade aus dem Werk des Dichters Miquel Martí i Pol. Und das hat Tradition: Sócrates, Baumgartner, Ergić. Das Wochenlexikon vom Team Ralf Höller
Ausgabe 27/2015
Denkende Fußballer

Foto: Aflosport/Imago

A

Aristoteles Das waren noch Zeiten! 1972 lässt Monty Python für seinen Fliegenden Zirkus Deutschland und Griechenland im „Fußballspiel der Philosophen“ aufeinandertreffen. Die deutsche Hinterreihe bilden Kant, Hegel, Schopenhauer und Schelling. Im Sturm werden Nietzsche und Heidegger aufgeboten. Bei den Griechen steht Platon im Tor, Aristoteles ist Libero, Sokrates stürmt. Nach dem Anpfiff bestechen beide Mannschaften durch gute Raumaufteilung. Die Philosophen wandeln einzeln oder diskutierend über den Rasen – der Ball bleibt aber unberührt auf dem Anstoßpunkt liegen. Auch die Einwechslung von Marx ändert daran nichts. Doch dann hat Archimedes eine Idee. „Heureka“, ruft er aus und passt den Ball zu Sokrates. Nach einer Tiki-Taka-Kombination kann Sokrates so in der letzten Minute das entscheidende Tor erzielen. Dass die Deutschen danach mit dem Referee disputieren und Kant nachweisen will, dass das Tor nur in der Imagination existiert, ändert nichts mehr: Griechenland gewinnt das Duell der Geistesgrößen. Jan Pfaff

B

Baumgartner Der vermutlich beste Fußballer unter Deutschlands Denkern stammt aus München. Hans Michael Baumgartner, der später Professor für Praktische Philosophie in Gießen und Bonn wurde (➝ Sócrates), schaffte es in der Saison 1952/53 in die höchste Klasse. 19 Mal lief er für den TSV 1860 in der Oberliga Süd auf. Gleich bei seinem Debüt erzielte er das 1:0 gegen Waldhof Mannheim. Am zweiten Spieltag traf er ebenfalls, in Ulm. Danach gelang dem 19-Jährigen nur noch ein Tor beim Sieg gegen den Karlsruher SC – zu wenig, um den Abstieg der 1860er in die Regionalliga zu verhindern. Die höchste Fußballetage betrat Baumgartner, inzwischen Student in Göttingen, erst wieder in der Saison 1956/57. Um für den nächstgelegenen Oberligisten zu stürmen, war der Linksaußen immer noch schnell genug. Und treffsicher: In 27 Einsätzen, auf zwei Spielzeiten verteilt, gelangen ihm elf Ligatore im roten Dress von Hannover 96. Ralf Höller

C

Camus Albert Camus, in Frankreichs Kolonie Algerien aufgewachsen, stand beim Spitzenklub Racing Universitaire d’Alger (RUA) zwischen den Pfosten. Der Fußball sollte sein Studium finanzieren. Doch dazu kam es nicht. Kurz nach dem Abitur erkrankte Camus an Tuberkulose. Seine kaputte Lunge zwang ihn, den Leistungssport aufzugeben. Camus verließ den RUA, bevor der Verein zweimal – in der Saison 1933/34 und 1934/35 – die Stadtmeisterschaft gewann; in Ermangelung einer Landesmeisterschaft die damals höchste nationale Trophäe für algerische Klubteams. Bereut hat Camus sein sportliches Engagement nie. Im Gegenteil: „Alles, was ich über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe“, bekannte der Begründer der Philosophie des Absurden im Rückblick, „verdanke ich dem RUA.“ Längst in Paris, sah sich Camus im Prinzenpark gern die Spiele der Heimmannschaft an. Der Racing Club de Paris hatte mit dem RUA nicht nur den Namen gemein. Seine Spieler trugen auch, erklärte Camus, „dieselben Trikots“. Ralf Höller

E

Ergić Vermutlich wäre Ivan Ergić ein Weltstar geworden, wäre er nicht ganz so sensibel. 2004 wurde er schwer depressiv. Er spielte da beim FC Basel, der den serbisch-australischen Doppelbürger von Juventus Turin erst ausgeliehen, dann übernommen hatte. Die Depression wurde geheilt, aber der Mittelfeldstratege überwarf sich mit Trainer Christian Gross und legte sein Amt als Captain nieder. Der Polizistensohn Gross ist das, was Adorno/Horkheimer einen „autoritären Charakter“ (➝ Tuchel, Thomas) nannten. Ergić musste man das nicht sagen, er las die „Dialektik der Aufklärung“ im Mannschaftsbus. Im Herbst seiner Karriere wurde er mit Bursaspor noch türkischer Meister. Heute schreibt Ergić, der Marx zu seinen Lieblingsautoren zählt, kapitalismuskritische Kommentare, aber auch Liebeslyrik. In Belgrad wollte er ein Kulturzentrum aufbauen, wie weit es gediehen ist, wird man hoffentlich bald mal bei uns lesen. Michael Angele

F

Finte Vielleicht haben wir aber auch einen zu engen Begriff vom Denken: Der Fußballer ist wie der Autor, er herrscht und beherrscht per Gedankeninduktion. Gedanke und Körper sind eins bei ihm und noch besser: Mit seinem Körper kann er den Körper des Gegners lenken. Täusche ich links an, läuft der links mit, steige ich über, zuckt er. Die hohe Kunst des Fußballs ist nicht das Grätschen, Draufhauen und Hinwerfen. Die hohe Kunst des Fußballs hat mit dem Ball nur am Rande zu tun: Der Geist des Ich öffnet sich dem Gesamtgeist aller 22 auf dem Rasen, und er fokussiert auf die nächstliegende Seelenverdichtung im Äther. Jederzeit muss ich nämlich wissen, was der hässliche Gegenspieler, der ja naturgemäß so denkt wie ich, gerade im Sinn hat. Jeden Moment muss ich also mit jeder Faser spüren, was er denkt, was ich denke. Und seinen Geist zu 180 Grad Täuschung verführen. Ich laufe rechts, er läuft ins Leere. Da kann er dann nachdenken. Denkende Fußballer? Den guten ist das Denken längst eine Nummer zu klein. Sie befassen sich mit Gedankenkontrolle. Klaus Ungerer

K

Krimi Und wenn es bald keine Bücher lesenden und Bücher schreibenden Fußballer mehr gibt, dann basteln wir uns eben einen. So zum Beispiel: Spielt in der britischen Premier League, macht aber dazwischen einen Uni-Abschluss in modernen Sprachen, wird dann Co-Trainer bei einem Londoner Klub, hat eine ebenso attraktive wie kluge Frau, sagen wir Psychotherapeutin und Autorin mehrerer Fachbücher (➝ Vendrame) über Esstörung. Mit seiner Frau kann er über Dostojewski reden oder über Kreationismus. Ach so, ja: Ein Buch will er auch schreiben, über seinen Trainervorgänger Zarco, eine Art Alter Ego von Mourinho. Es gibt meinen Trainer nämlich schon, in einem Krimi, der bei uns im August erscheint: Der Wintertransfer von Philip Kerr. Scott Manson heißt der Mann, neben seiner Arbeit als Halbintellektueller und Interimstrainer muss er nun auch noch den Mord an Zarco aufklären helfen. Michael Angele

S

Sócrates Den Brasilianer Sócrates Sampaio tauften die Eltern nach dem antiken Philosophen. Obwohl der Kapitän der Seleção und zweimalige WM-Teilnehmer ohne Titel blieb, wurde er ein Weltstar. 1982 in Spanien wählten ihn die Journalisten zum besten Spieler des Turniers. Nach der Fußballkarriere machte Sócrates einen Hochschulabschluss in Philosophie. Es war sein zweites Universitätsexamen, vorher hatte er Medizin studiert. Sócrates praktizierte bis zu seinem frühen Tod vor vier Jahren stets nur als Arzt. Darüber hinaus engagierte sich der überzeugte Sozialist in der heimischen Politik. Als Philosoph hätte ihm der Autor Stephan Geiger ein Denkmal setzen können. Doch ist sein Buch Sokrates flankt dem Namensvetter mit k gewidmet. Geiger weiß, wovon er schreibt: Streng genommen war Sócrates kein Philosoph. Zumindest kein so anerkannter wie H.-M. Baumgartner (➝ Baumgartner), bei dem Geiger in Bonn studierte. Ralf Höller

T

Tuchel, Thomas kehrt zurück in die Bundesliga und das ist auch für dieses Lexikon eine gute Nachricht. Wenn der Fußballlehrer beim BVB Startschwierigkeiten haben dürfte, sind sie nicht fachlicher, sondern emotionaler Natur: Tuchel gilt als Kopfmensch, dem die kloppsche Kuschelaura fehlt. In fremden Fanlagern wird er für seine Spielanalysen als Taschentuchel verspottet, vor allem wenn er trotz Niederlage sein Team als das bessere gesehen hat. Das zieht im Fußball Spott nach sich, schlimmer: den Vorwurf des schlechten Verlierers. Ein Trugschluss, denn jener reagiert emotional, Tuchels Analysen sind sachlich, die Fanvorwürfe greifen ins Leere. Wie passt nun einer, der alles bis ins Detail durchdenkt, ins Ruhrgebiet? Perfekt. Weil Tuchels Herz den Entscheidungen seines Kopfes folgt und er Gedanken zu Ende fühlt (➝ Finte). Der Mann ist ein fachliches wie menschliches Phänomen: Wenn die Wissenschaft je ernst macht mit dieser Klonerei, sollte sie bei ihm anfangen. Mara Braun

V

Vendrame Er sah aus wie George Best, war aber schlauer und trank weniger Alkohol. Ezio Vendrame spielte vier Jahre in Italiens Serie A: von 1971 bis 1974 in Vicenza, danach noch eine Saison für den SSC Neapel. Ein einziges Tor gelang dem Mittelfeldakteur in der höchsten Profiliga: zum 2:2-Endstand seiner Lanerossi beim Gastspiel in Verona. In Erinnerung blieb auch Vendrames Tunnel gegen Gianni Rivera vom großen AC Mailand. Eindrucksvoller liest sich eine andere Statistik: Ezio Vendrame hat bereits ein gutes Dutzend Bücher veröffentlicht, diejenigen über Fußball gar nicht mitgerechnet. In seiner Heimat zählt er zu den bekannteren Schriftstellern. Als Philosoph hat ihn bislang freilich nur Beppe Grillo bezeichnet. Der Gründer des Movimento Cinque Stelle kennt Vendrame gut, seit dessen Kandidatur für die Protestpartei bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren. Ralf Höller

W

Wittgenstein Gleich in zwei Eliteauswahlen schaffte es der große Wiener Philosoph: als Mitglied der Heimelf beim Philosophenländerspiel Deutschland gegen Griechenland (das leider nur in Monty Python’s Flying Circus stattfand, siehe ➝ Aristoteles) wie auch in die in Philosophy Football zusammengestellte Weltelf der Denker. Das Besondere an Mark Perrymans Auslese ist die Zuordnung der Geistesgrößen zu real existierenden Vereinen – im Fall Wittgensteins die Wiener Austria. Genial gedacht: der jüdischstämmige Positivist, der übrigens nie aktiv spielte, als Anhänger eines jüdischen Vereins! Doch ebenso daneben: Die Austria ist im Südwesten Wiens angesiedelt, weit entfernt von der Leopoldstadt, in der Wittgenstein aufwuchs. Vor dessen Haustür kickte ein anderer jüdischer Klub und bot sich als Fanheimat an: Der SC Hakoah Wien wurde 1925 österreichischer Meister, 1938 wurde der Verein zerschlagen. Ralf Höller

Z

Zensuren Nichts gegen Denker, aber wie schön war das, als Fußballprofis noch kein Abitur haben durften? Und wenn sie es allen gültigen Gesellschaftsverträgen zum Trotz dann doch mal schafften, und sei es auch nur vermeintlich, wurden sie fortan verächtlich „Professor“ genannt und hatten ihren Stempel weg, siehe Olaf Thon. Obschon der in Wahrheit ebenso wenig ein Abitur hatte wie sein Vereinskollege bei Schalke 04, Rüdiger „Abi“ Abramczik. Schön war das und richtig. Andersrum wird ein Stollenschuh draus: Nur dort, wo das Proletarische gefürchtet und verachtet wird, kann so etwas Unnötiges wie ein Abitur-Fußballer zum Normalfall werden, siehe heute. In den obligatorischen Leistungszentren der Fußballbundesligisten lernen die jungen Sportsfreunde nicht mehr nur Fußball, sondern auch, wie man die allgemeine Noteninflation in ein Einser-Abitur verwandelt. Fun fact: An den Universitäten wird mittlerweile zwar nicht mehr so viel gedacht, dafür aber umso besser Fußball gespielt. Timon Karl Kaleyta

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