Denkmal für eine No-Name-Anarchistin

Straßenbild Als ich dieser Tage mit der Bahn durch die Kastanienallee fuhr, kam mir plötzlich eine typische Szene aus der Vergangenheit in den Sinn. Vor einem ...

Als ich dieser Tage mit der Bahn durch die Kastanienallee fuhr, kam mir plötzlich eine typische Szene aus der Vergangenheit in den Sinn. Vor einem der Häuser saß da manchmal eine sehr dicke, alte Frau auf einem noch älteren Stuhl. Ungerührt und immun gegen alle Regeln des Zusammenlebens in einer sozialistischen Metropole, hatte sie sich dort niedergelassen und rauchte Karo, eine Art Ost-Gauloise. Sie trug eine Kittelschürze und wirkte reichlich apoplektisch. Es war nicht üblich, Stühle auf die Straße zu stellen. Es gab wenige Terrassencafés in Berlin und in der mülligen Kastanienallee schon gar nicht. Sie aber saß da, wie auf dem Dorf, sie scherte sich um nichts. Da war sie "drüber", wie der Dichter sagt.
Neben der italienischen Sonnenblende an einem Schaufenster in der Nähe, schien sie mir einziger Lichtblick. Manchmal meinte ich, sie riefe mir zu: "Mach auch mal so was, setz´ dich mitten auf die Straße oder leg´ dich irgendwo quer." War diese Art so herumzusitzen nicht die Vorstufe zum späteren "auf die Straße gehen" in des Wortes aufmüpfigster Bedeutung? Ihr würde ich gern ein Denkmal setzen. Denn heute schlängelt man sich zwischen nachholender "Vermüllungsapotheose" und vorauseilender Luxussanierung von Kneipentisch zu Kneipentisch. Heute leben hier völlig abgedrehte Punks, die Hausbesetzer spielen, obwohl niemand mehr ihnen die verrottete Hütte streitig macht, deren Außenwand sie phantasievoll begrünen. Sie haben einen Vertrag mit der Stadt oder dem Besitzer.
In den besseren Häusern residieren Yuppies mit Herz, deren revolutionäre Initiation mit einem scharfen Wort gegen die Eltern und deren gepflegte Vorgärten abgeschlossen war. Enterbt sind sie nicht. Wenn ich dort entlang gehe, dann scheint es mir, als seien Menschen vor vielen Jahren tatsächlich deshalb auf die Straße gegangen, um jetzt dort so sitzen zu können, wie sie sitzen - und wenn etwas quer steht, dann sind es die langen Bänke. Einige Caféhausstühle erinnern noch an Omas Abendsitz, aber sonst ist das Leben jung hier, schnell und exemplarisch schräg, kunstvoll chaotisch. Manchmal erinnert das Ganze an eine Sitzblockade, natürlich in der postmodernen Variante, es geht um nichts mehr, nur noch um die Form und reichlich Platz auf dem Trottoir.
Ich aber denke an jene alte Frau mit der filterlosen Zigarette in der Hand. Sie ist wahre Ahnin der Trash-Kultur, wie sie jetzt hier zelebriert wird. Sie sollte zur Patronin dieser verkramten Straße ausgerufen werden, obwohl und gerade weil sie eine "no-name-Anarchistin" ist.

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