Deportation nach Guantanamo

Schonzeit für Warlords André Brie (PDS), Afghanistan-Berichterstatter des Europaparlaments, über Warlords und Wahlen im Protektorat am Hindukusch sowie 1.000 Privat-Gefangene des Generals Dostum

In Afghanistan sollen 2004 Präsidentschaftswahlen stattfinden, doch um einen halbwegs regulären Verlauf zu garantieren, müssten die Warlords entmachtet werden. Die USA scheinen daran so gut wie kein Interesse zu haben, was einmal mehr die Frage nach dem militärischen Sinn eines erweiterten ISAF-Mandats aufwirft.

André Brie, der Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments, hat in den letzten Wochen erneut das Land bereist, um sich ein Bild von dieser widerspruchsreichen Entwicklung zu verschaffen. Er konnte neben Ministern in Kabul mit General Gliemeroth, dem ISAF-Oberkommandierenden, sowie mit Warlords im Norden sprechen. Dabei war es ihm auch möglich, das Privatgefängnis des Usbeken-Generals Dostum zu betreten und mit den dortigen Gefangenen zu reden, die seit dem Krieg vor zwei Jahren interniert sind.

FREITAG: Präsident Karzai hat am 24. Oktober bei der Waffenabgabe von 1.000 Milizionären im Sportstadion von Kundus von einem guten Tag für Afghanistan gesprochen, dem in den nächsten drei Jahren weitere folgen sollen, wenn 100.000 Milizionäre ihre Waffen abgeben. Eine realistische Erwartung oder Zweckoptimismus?
ANDRE BRIE: Ich sehe das weitaus kritischer als Karzai. Diese Waffenabgabe vom 24. Oktober hatte einen symbolischen Wert, aber keinen realen. In Wirklichkeit werden die Milizen weiter aufgerüstet - mit Unterstützung der USA und anderer Staaten. Sicher wäre es technisch möglich, 100.000 Afghanen zu entwaffnen und zu reintegrieren, nur muss es dazu tatsächlich den politischen Willen der Vereinigten Staaten geben, die augenblicklich die Warlords unterstützen oder zumindest tolerieren. Und das ungeachtet der Tatsache, dass sich deren Armeen zunehmend aus dem Drogengeschäft finanzieren. Deswegen sehe ich dieses Afghan New Beginnings Programme (ANBP), zu dem Kundus der Auftakt sein sollte, sehr, sehr skeptisch.

Wenn die Amerikaner so verfahren, unterlaufen sie objektiv die Zentralmacht von Präsident Karzai - wo liegt da die politische Logik?
Scheinbar ist das paradox, wenn die Amerikaner mit ihrer Politik gegenüber den Warlords genau den Mann in Kabul gefährden, den sie gerade durch die neue Verfassung stärken wollen. Ich kann mir das nur damit erklären - auch wenn das vielleicht etwas verschwörungstheoretisch klingt -, dass die Bush-Regierung Instabilität in Afghanistan braucht, um ihre Anti-Terror-Politik - inklusive der ungeheuren Waffenprogramme - zu legitimieren und durchsetzen zu können.

Sie haben in Kabul mit General Gliemeroth, dem Oberkommandieren der ISAF-Truppen, gesprochen. Wie sieht er das?
Der hat sich dazu sehr diplomatisch geäußert, aber mein Eindruck ist schon, dass es bei ISAF eine andere Strategie als bei den Amerikanern gibt.

Inwiefern?
ISAF selbst wird größte Anstrengungen unternehmen - und die nehme ich ernst -, bis Februar 2004 eine Abrüstung bei schweren Waffen, zumindest im Raum Kabul, zu bewirken. Das halte ich für aussichtsreich, nur wird es nichts an der Gesamtlage ändern, da die aktuellen oder potenziellen Spannungsherde nicht im Umfeld der Hauptstadt, sondern im Norden und im Süden und nicht zuletzt im Westen bei Herat liegen.

Welchen militärischen Sinn hat dann die Verlegung von Bundeswehreinheiten nach Kundus oder von anderen ISAF-Formationen, die über Kabul hinaus disloziert werden?
Ich glaube, es gibt auch hier unterschiedliche Auffassungen zum Konzept der sogenannten Provincial Reconstruction Teams (PRTs). Die Amerikaner wollen sich etwas zurücknehmen, die Lasten der Militärpräsenz in Afghanistan mehr als bisher auf andere Staaten verteilen, ansonsten aber in den Provinzen grundsätzlich nichts ändern. Einige europäische Staaten und die UNO wollen dagegen versuchen, die Warlords durch ein Abrüstungsprogramm zu entmachten oder wenigstens Voraussetzungen zu schaffen, dass es dazu kommt.

Ich glaube allerdings, dass man dabei einen falschen Weg einschlägt, wenn es zu derart widersinnigen Aktionen kommt wie dem Einsatz von PRTs der Bundeswehr in Kundus. Dort handelt es sich einerseits um eine relativ stabile Region, andererseits um ein Zentrum des Drogenanbaus und -handels. Dazu hat bekanntlich der Bundestag beschlossen, dass man sich nicht einzumischen habe ...

... und so wirkungslos bleibt.
Nicht nur das - man setzt sich auch der Gefahr aus, Spielball der Warlords und dadurch erst recht verwickelt zu werden. Unter diesen Umständen lässt sich für die afghanische Bevölkerung nichts tun, lediglich die eigenen Soldaten werden gefährdet.

Wird es 2004 zu Wahlen kommen?
Es ist dem Bonner Petersberg-Abkommen vom Dezember 2001 zu verdanken, dass nicht klar definiert worden ist, worüber 2004 abgestimmt werden soll. So wird es zunächst nur eine Präsidentenwahl geben, nur darf man nicht glauben, dass dadurch die Heterogenität des Landes überwunden wird und faktisch über Nacht demokratische Strukturen entstehen. Dahinter steckt ein eindeutiges Interesse der Amerikane: Sie wollen Karzai und nicht mehr. Bush möchte vor der Präsidentschaftswahl in den USA einen Erfolg vorweisen: einen durch Wahlen legitimierten Staatschef in Afghanistan. Und gewinnen soll der Mann, den die Amerikaner voll und ganz kontrollieren. Ich war jetzt erneut im Präsidentenpalast von Kabul und habe gesehen, dass sich das Umfeld Karzais wesentlich aus Amerikanern rekrutiert. Der Präsident Afghanistans wird nicht von afghanischen Sicherheitskräften, sondern von amerikanischem Personal bewacht.

Im Sommer, als wir auch den US-Oberkommandierenden, Generalleutnant Vines, trafen, hatte der während eines Briefings unumwunden verkündet, das entscheidende Ziel der USA sei es, eine afghanische Regierung zu installieren, von der sicher ist, dass sie die Amerikaner jederzeit wieder ins Land holt, wenn es notwendig sein sollte. Wortwörtlich.

Dafür steht Karzai.
Eindeutig Karzai und kein Parlament. Das könnte allerdings auch zur Spielwiese der Warlords werden. Wenn also die internationale Gemeinschaft in Afghanistan demokratische Verhältnisse will, dann muss sie sich für einen Präsidenten einsetzen, der durch checks und balances unter demokratischer Kontrolle steht. Dazu müssten 2004 zeitgleich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Das ist jedoch - und damit schließt sich der Kreis - ohne vorherige oder parallele Abrüstung der Warlords kaum denkbar.

Gibt es denn überhaupt Parteien, die zu Parlamentswahlen antreten würden?
Ich habe zu meinem Erstaunen demokratische Kräfte kennen gelernt, von denen man normalerweise gar nicht annimmt, dass sie existieren. Sie haben teilweise landesweite Strukturen, was mich positiv überrascht hat. Die brauchten gerade jetzt eine Chance.

Um noch einmal auf das neue ISAF-Mandat zurückzukommen, Sie waren im Norden, vor allem im Raum von Mazar-i Sharif und haben dort direkt mit dem Usbeken-General Dostum gesprochen, einem der mächtigsten Warlords. Wie sieht er die PRTs?
In Mazar-i Sharif liegt bereits ein britisches PRT, über das sich Dostum öffentlich positiv äußert. Er beteuert ständig, kooperieren zu wollen. Praktisch ist es aber so, dass er neue Waffen beziehen kann und ihn dabei niemand stört. Jüngst sind auf Weisung von Präsident Karzai der Gouverneur und der Polizeichef der Provinz ausgetauscht wurden, was Dostum gewiss unangenehm war, zumindest, was den Polizeichef anging - das war ein Mann von ihm. Gravierende Konsequenzen hat das jedoch nicht, da Dostums Spielraum davon unberührt bleibt.

Wie man hört, zeigt sich diese Machtfülle seit 2001 auch in einer Art Selbstjustiz.
Es ist tatsächlich so, dass der General etwa 100 Kilometer von Mazar-i Sharif entfernt eine Art Privatgefängnis in Sherberghan unterhält. Der Begriff ist nicht ganz korrekt, weil die USA dort die meisten Gefangenen selbst verhört haben. Mit anderen Worten, sie hätten alle Möglichkeiten, Dostums Willkür ein Ende zu machen. Stattdessen haben sie mehr als 120 Häftlinge nach Guantanamo deportiert. Wenn im November 2003 - zwei Jahre nach dem Sturz der Taleban - weiter über 1.000 Gefangene in Sherberghan sitzen, dann geschieht das, weil die Amerikaner es so wollen. Das ist ein internationaler Skandal, der zu Lasten der Vereinten Nationen geht, die für das Protektorat Afghanistan faktisch die Verantwortung tragen, vor allem aber zu Lasten der USA, die in diesem Protektorat real die Macht besitzen, aber rechtsstaatliche Grundsätze missachten.

Wird den Männern in Sherberghan inzwischen der Status von Kriegsgefangenen zugebilligt?
Es gibt lediglich eine Betreuung durch das Internationale Rote Kreuz, das Kontakte zu den Familien ermöglicht. Ansonsten werden weder Verfahren eröffnet, noch wird diesen Sträflingen der Status von Kriegsgefangenen zuerkannt, wie das nach den Genfer Konventionen geboten wäre.

Wie sind die Haftbedingungen?
Die gefangenen Afghanen sitzen dort in einem Block von vielleicht 30 Meter Länge - auf engem Raum sind das 450 Häftlinge. Die Pakistani sind in einem zweiten Block unter etwa gleichen Bedingungen interniert. Das Hauptproblem für mich ist das Fehlen aller rechtlichen Standards.

Konnten Sie mit den Gefangenen sprechen?
Die afghanischen standen alle am Gitter, als ich kam, haben dann aber jedes Gespräch verweigert. Anders die Pakistani, die mir erklärt haben, es gäbe jetzt eine weitgehend normale Behandlung, was vor allem bedeute, dass sie nicht mehr gefoltert würden, wie das nach ihrer Gefangenennahme der Fall war, und dass sie Kontakt mit ihren Familien hätten. Aber es werden eben nach wie vor Mindestnormen des Völkerrechts ignoriert, was in Sherberghan besonders für ehemalige Kommandeure gilt, etwa 45 an der Zahl, von denen mir einer sagte, er fühle sich jetzt zwar fair behandelt, aber ein Prozess sei nicht in Sicht.

Das bedeutet?
Dieser Mann war darauf eingestellt, bis an sein Lebensende dort interniert zu bleiben. Die Pakistani dagegen waren optimistischer und hofften, demnächst frei zu kommen. Es handelt sich bei ihnen fast nur um Leute, die nach dem 11. September 2001 und kurz vor dem Fall der Taleban nach Afghanistan gingen, als es in den islamischen Ländern hieß, man müsse dieses Land gegen die heraufziehende Invasion der Amerikaner verteidigen. Es spricht einiges dafür, dass man diese Gefangenen als Faustpfand hält, um Druck auf Pakistan ausüben zu können - was schändlich wäre, sollte es zutreffen.

Was tut die pakistanische Regierung?
Sie bemüht sich, diese Leute frei zu bekommen, bisher vergeblich. General Dostum hat mir gesagt - und ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht -, er sei jederzeit bereit, die Gefangenen der UNO oder der Zentralregierung zu übergeben.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie in dieses Gefängnis hinein konnten?
In Gegenwart von mehreren Europa-Parlamentariern und Diplomaten hatte ich Dostum bei meiner letzten Afghanistan-Reise im Juni direkt auf diese Gefangenen hin angesprochen - und da bot er an, beim nächsten Mal könnte ich sie sehen. Also habe ich ihn einfach erinnert und beim Wort genommen.

Das Gespräch führte Lutz Herden


ISAF in Afghanistan

5. Dezember 2001 - die größten ethnischen Gruppen Afghanistans einigen sich auf der "Petersburger Konferenz" auf "provisorische Regelungen in Afghanistan bis zum Wiederaufbau dauerhafter Regierungsinstitutionen".

20. Dezember 2001 - der UN-Sicherheitsrat beschließt mit der Resolution 1386 die Entsendung einer internationalen Schutztruppe ISAF (International Security Assistance Force).

22. Dezember 2001 - der Bundestag erteilt das Mandat für eine deutsche ISAF-Beteiligung auf der Basis von Resolution 1386.

14. Januar 2002 - deutsche Soldaten patrouillieren erstmals durch Kabul.

6. März 2002 - beim Entschärfen einer Flugabwehrrakete kommen bei Kabul zwei deutsche und drei dänische Soldaten ums Leben.

19. März 2002 - Deutschland übernimmt die Führung der multinationalen Brigade in Kabul, während das Gesamtkommando der ISAF-Truppen bei Großbritannien bleibt.

27. November 2002 - der UN-Sicherheitsrat beschließt mit der Resolution 1444 eine Verlängerung des ISAF-Mandats über 2002 hinaus.

20. Dezember 2002 - der Bundestag verlängert das Mandat für die deutsche ISAF-Beteiligung.

21. Dezember 2002 - bei einem Erkundungsflug über Kabul kommen beim Absturz eines CH-53-Helikopters sieben deutsche Soldaten ums Leben.

10. Februar 2003 - Deutschland und die Niederlande übernehmen die Verantwortung als "Lead Nations" bei der ISAF.

3. Juni 2003 - die NATO-Außenminister beschließen in Madrid die Ausweitung der Operationsgebietes der an ISAF beteiligten NATO-Verbände über Kabul hinaus.

7. Juni 2003 - bei einem Selbstmordattentat auf einen Bundeswehrbus werden vier Soldaten getötet und 29 verletzt.

1. August 2003 - die NATO übernimmt unbefristet die strategische Koordination und Führung bei ISAF. Der Einsatz sogenannter Provincial Reconstruction Teams (PRTs) in den Regionen, die bis dahin von Briten und Amerikanern gebildet werden, soll ausgebaut und aus anderen ISAF-Nationen rekrutiert werden.

7. August 2003 - Verteidigungsminister Struck plädiert für eine Ausweitung des Aktionsradius´ der Bundeswehr in Afghanistan.

25. Oktober 2003 - der Bundestag beschließt mehrheitlich, den Bundeswehreinsatz über Kabul auszudehnen und 450 Soldaten im nördlichen Kundus zu stationieren, am gleichen Tag fliegen die ersten 30 Soldaten an den künftigen Einsatzort.


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