Depression ist Zorn

Theater Ulrich Rasche inszeniert in Berlin „4.48 Psychose“ von Sarah Kane. Dass bei ihm zu viel gebrüllt und marschiert werde, findet er nicht
Ausgabe 09/2020

Formstreng, überwältigend, monumental. Kaum eine Kritik zu den Theaterarbeiten von Ulrich Rasche kommt ohne diese Schlagwörter aus. Auch diese Zeitung nicht (der Freitag 38/2018). Über Jahre hat der Regisseur seine Handschrift perfektioniert, die – okay, sagen wir es dann mal – monumental ist. Auf riesigen Maschinen laufen seine Chöre im Takt der minimalistischen Partitur, ständig in Bewegung auf monströsen hydraulischen Laufbändern, Drehscheiben oder Walzen. Sie spucken Silbe um Silbe vom Text qualvoll aus, als würde jeder Ton ihnen Schmerzen bereiten. Rasche polarisiert. Die einen finden, sein Überwältigungstheater habe eine faschistoide Ästhetik. Die anderen feiern ihn. Ab 2017 wurde Rasche drei Jahre in Folge zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

1969 wird Ulrich Rasche in Bochum geboren. Nach einem Studium der Kunstgeschichte und Komparatistik zieht er 1999 nach Berlin. Er inszeniert in der freien Szene in Berlin und Stuttgart, bleibt aber unter dem Radar. Der Durchbruch gelingt ihm 2004 mit Singing! Immateriell arbeiten im Palast der Republik – eine chorische Arbeit, die schnell zu seinem Markenzeichen wird.Mittlerweile ist er an den renommiertesten Theaterhäusern im deutschsprachigen Raum gefragt. Er produziert in Wien, München, Dresden, Basel. Und, es dürfte eine Warteliste geben. Denn Rasche inszeniert nur ungefähr zwei Stücke pro Jahr, mehr schaffe er nicht, die Proben seien intensiv.

Wir treffen uns kurz nach der Premiere von Sarah Kanes 4.48 Psychose – der ersten von drei Inszenierungen für das Deutsche Theater. Rasches Art ist das Gegenteil seines – okay, nur noch einmal – überwältigenden Theaters: Er redet sanft, überlegt, herzlich. Dass er immer nur das Gleiche mache, kann er als Kritik nicht nachvollziehen, fragt, weshalb nicht als Qualität angesehen werden könne, dass einer seine Handschrift kontinuierlich verfeinere, fortführe. Er nennt die formstrengen Meister*innen Pina Bausch, Robert Wilson und William Forsythe als Einflüsse.

Rasche fühlt sich von einigen Kritikern gar bewusst missverstanden. „Damit kann ich aber gut leben“, ergänzt er. „Teile der Kritik nehmen unsere Arbeit als eine Bedrohung für eine bestimmte Entwicklung des deutschsprachigen Theaters wahr. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Theaterkritik mit dieser alles dominierenden Form stark identifizieren können. Sie haben aber versäumt, ihren Blick offen zu halten. Und ihnen fehlt oftmals – und das muss man leider auch sagen – das Werkzeug, solche Formen beschreiben zu können.“ Rasche erzählt von Kritikern, die ihn „kapieren“ und „nicht kapieren“. „Sobald ich lese, dass in unseren Aufführungen durchweg ‚marschiert‘ oder ‚gebrüllt‘ wird oder die Spieler*innen ‚auf der Stelle treten‘, lege ich die Zeitung zur Seite. Ich kann diese präjudizierten Kritiken nicht ernst nehmen.“ Vor allem der Vorwurf einer faschistoiden Ästhetik verwundert Rasche.

Ein Faible für den Tanz

„Bestimmte Aufführungen sind eine Auseinandersetzung mit totalitären oder sogar faschistischen Systemen. Wir untersuchen Bedingungen, unter denen sie entstehen, und versuchen ihre Wirkungsmechaniken zu verstehen. Unsere Arbeit bildet diese Systeme nicht ab, sondern analysiert sie.“ Er redet immer im kollektiven „Wir“.

Im Kern seiner Arbeiten steht eine Abneigung des scheinbar Individuellen im deutschsprachigen Theater, das Rasche für falsch hält. Es geht ihm darum, unsere Vorstellung von Individualität zu kritisieren. Unsere Wahrnehmung für das Allgemeine zu schärfen. Wo ein ausufernder Individualismus hinführt, sieht man in seiner Inszenierung von Euripides‘ Bakchen, die im September im Wiener Burgtheater Premiere feierte.

Wie öfter, wenn Rasche inszeniert, geht das nicht ohne Streit über die Bühne. Streit hatte es gegeben am Schauspiel Frankfurt, weil Rasche das Stammensemble für Die Perser übergangen haben soll, in Wien wurde sich echauffiert, weil das Bühnenbild 350.000 Euro gekostet haben soll, was Rasche bestreitet. Zudem sei der Chor schlecht bezahlt, was Rasche auch bestreitet. Die Münchener Abendzeitung will Zitate von FPÖ-Politikern wie Norbert Hofer oder Ex-Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache gehört haben. Rasche wählt seine Worte jetzt ganz genau. „Die Inszenierung war uns ein Anliegen, den dionysischen Kult und den Auftritt des Dionysos nicht nur als das Erscheinen eines Erlösers zu zeigen, der die Stadt Theben von einem autoritären Herrscher befreien will. Ganz im Gegenteil: Wir wollten verständlich machen, dass in der simplen Affirmation des dionysischen Rausches die Gefahr eines unentdeckten Faschismus stecken kann, der wir letztlich unterlegen sein könnten.“

Wer bei Rasche nur Aufmarschieren sieht, übersieht sein Faible für den Tanz. Viele erkennen zu Recht den Einfluss von Pina Bausch. Hier ist aber die israelische Choreographin Sharon Eyal „die wichtigste künstlerische Entdeckung“, die er in den letzten zwei Jahren gemacht hat. In Mainz hat Rasche Eyals Soul Chain gesehen, in Berlin ihre Arbeiten Half Life und Strong. „Eyal schafft es fast bruchlos, ihre Tänzerinnen und Tänzer in verschiedenste Spannungsverhältnisse von Gemeinschaft und Individuum zu überführen.“ Das kommt Rasche-Fans nun bekannt vor. Auch die hautengen und hautfarbenen Kostüme in 4.48 Psychose erinnern an Eyals Half Life. Seine jüngste Inszenierung ist gewissermaßen eine Reaktion auf die bisherige Rezeption seines Werkes, sein „Maschinentheater“. In 4.48 Psychose kommen vier, für Rasche-Verhältnisse eher bescheidene Laufbänder vor. Er hat zwar gedownsized, oder sagt man lieber deindustrialisiert, aber der Chor und das rhythmische Sprechen bleiben. Mehr Raum bekommt die Musik. Die Musiker kreisen um die Schauspielenden wie ein Geisterschiff.

Eine große Frage ist, was genau Rasche an Sarah Kanes Text interessiert. Viele sehen in dem Stück einen Selbstmordbrief. Nur Tage, nachdem die damals 28-Jährige ihrem Verleger das Manuskript übergibt, erhängt sie sich im Londoner Krankenhaus. Sind wir nicht Voyeure von Kanes innerem Schmerz, ihrem tragischem Schicksal? „Kane sagt selber, Depression ist Zorn, und Zorn bedeutet Widerstand. Depression ist also auch die Reaktion auf die Zuschreibung und Normierungsversuche der Gesellschaft.“

4.48 Psychose könnte man vielleicht als Rasches Wendepunkt betrachten. Die Maschinen machen weniger Radau. Rasche ist aber noch nicht fertig: „Die Verbindung von Musik, Sprache und körperlicher Bewegung ist immer noch nicht dort, wo ich hinkommen möchte. Allerdings sind wir durch die kontinuierliche Arbeit, die wir vor allem in den letzten drei Jahren durch Gastverträge mit einem teilweise festen Ensemble leisten konnten, schon ein gutes Stück weitergekommen.“ Für Rasches Kritiker*innen ist gut, dass noch zwei weitere Arbeiten im Deutschen Theater geplant sind, für das Publikum sowieso.

Info

4.48 Psychose Sarah Kane Durs Grünbein (Übers.), Ulrich Rasche (Regie), Deutsches Theater, bis 31. März

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