„Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für den Terrorismus“ lautete die berühmte, biblisch motivierte Aussage von US-Präsident George W. Bush vor dem Kongress, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2011. 3000 Tote an einem Tag – das war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das weitreichende Reaktionen geradezu erzwang. Doch anstatt nach Wegen hin zu mehr Frieden zu suchen und weiteres Leid zu vermindern, wählte der US-Präsident die Konfrontation. Es folgten ein Vergeltungs- und Angriffskrieg, staatlich sanktionierte Folter, Verschleppung, das Gefangenenlager Guantánamo und die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung. Aber Amerika versäumte nicht nur, sein eigenes Trauma aufzuarbeiten. Es schuf neue Traumata im Nahen und Mittleren Osten sowie in der eigenen Bevölkerung.
Die gegenseitigen Feindbilder verschärften sich. Es entstand eine Grenzziehung zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“. Die Unterschiede wurden übertrieben betont und jegliche Gemeinsamkeiten verneint – ein Muster, das man aus dem Ost-West-Konflikt kennt. Die neue Polarität ließ kulturelle Errungenschaften und Facetten, die Vielfalt von Traditionen, Religionen, Geschichte und Politik, vor allem aber von Individuen mit all ihren multiplen Identitäten hinter Blöcken absurder Klischees und Stereotypen verschwinden. Verbale und physische Gewalt wurde in nahezu archaischer Art und Weise Mittel zur Kommunikation.
Obwohl die Welt durch die Globalisierung wirtschaftlich und technisch immer weiter zusammengewachsen ist, sind die Menschen offenbar noch nicht imstande, einander besser kennenzulernen. Hatte Samuel Huntingtons Voraussage des „Kampfes der Kulturen“ tatsächlich dazu geführt, militärische und terroristische Kriege dem Dialog vorzuziehen? Viele Medien hierzulande wie auch in den arabischen und muslimischen Ländern haben durch ihre krude und teilweise aufwieglerische Berichterstattung zu mehr Polarisierung beigetragen und viel zu wenig daran gearbeitet, über die komplizierten Zusammenhänge des Konfliktes zu berichten. Stattdessen gaben sie meist ihr eigenes Narrativ wieder, anstatt die Vielschichtigkeit der Perspektiven zu beleuchten. Unterstützt wurden sie dabei auch von diversen Intellektuellen, deren Hetze gegen „die Anderen“ von ganz eigenen, individuellen Motiven angefeuert wird. Das dominante Narrativ hat sich durch diese Allianzen realpolitisch gesehen weltweit durchgesetzt – jenes der militärisch und wirtschaftlich stärkeren Region: des Westens unter der Führung der USA.
Es wurde oft behauptet, 9/11 habe die Welt für immer verändert. Aber welche Veränderungen erlebten die muslimischen Staaten in den vergangenen zehn Jahren? Und welche dieser Veränderungen sind tatsächlich direkte Folgen der Anschläge von New York und Washington? Über die Folgen von 9/11 ist viel geschrieben und gesagt worden – doch es ist mehr über die Menschen in der arabisch-muslimischen Welt öffentlich geworden, als dass sie selbst authentisch zu Wort gekommen wären. Die Interpretationen dessen, was die Menschen dort bewegt, sind deshalb meist von einer eurozentristischen und amerikanischen Sicht geprägt – eine Dynamik, die die Ungleichheiten noch weiter verschärft und die zu neuen Konflikten führt. Gerade weil im Allgemeinen so wenig über das Leben der Menschen in der Region bekannt ist, waren vermutlich so viele Beobachter vom Arabischen Frühling überrascht. Hier war plötzlich eine positive, nach vorne gerichtete Antwort auf das nahezu apokalyptisch wirkende Ereignis 9/11: Die zumeist jungen Leute standen auf, um sich von den Fesseln ihrer Altvorderen, der autoritären Regime und von den Klischees zu befreien, von denen sie vereinnahmt waren und die ihnen die Zukunft geraubt hatten.
Der Freitag hat diese Ausgabe zum zehnten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September ausschließlich der arabisch-muslimischen Perspektive in Wort und Bild gewidmet. Dem Begriff Perspektive wohnt die Vielfalt bereits inne. Analog dazu haben einige der Autoren besonders vielschichtige Identitäten, indem sie zum Beispiel Bürger Europas oder Amerikas, zugleich aber von Geburt, Abstammung oder durch ihren Lebensweg mit dem Nahen und Mittleren Osten verbunden sind. Es kam uns darauf an, gerade diese Komplexität zu beleuchten, denn aus ihrer Sicht gibt es „den Muslim“ oder „den Araber“ genauso wenig wie „den Christen“, „den Europäer“, „den Amerikaner“, „den Israeli“ oder „den Juden“. Alle diese Etiketten und Kategorisierungen führen in die Irre und sind gefährlich, weil sie die Vorlage für Stigmatisierungen und Vorurteile bieten.
Aus vielen der hier veröffentlichten Texte geht hervor, dass nicht nur diejenigen Araber und Muslime in ihren jeweiligen Staaten unter den politischen Folgen der Terroranschläge gelitten haben, sondern in einem vergleichbaren Maße auch jene, die im freiwilligen oder unfreiwilligen Exil leben. Das hatte auch Implikationen und Konsequenzen für das Zusammenleben der Bürger ihres jeweiligen Landes.
Die Sonderredakteure und die Redaktion des Freitag teilen nicht alle hier präsentierten Perspektiven und Aussagen der Autoren. Aber Demokratien leben von der Freiheit, akzeptieren zu können, dass es viele Ansichten und Standpunkte gibt, die oft nicht miteinander vereinbar sind. Sie haben ihre Ursachen in der persönlichen Geschichte jedes Einzelnen und dem Kontext, in dem er oder sie lebt. Wichtig ist, diese unterschiedlichen Perspektiven zunächst wahrzunehmen und konstruktiv damit umzugehen. Es liegt in der Natur von Konflikten, dass die Parteien häufig eine „andere Sprache sprechen“ – sie benutzen andere Terminologien, die in vielen Fällen andere Bedeutungen haben. Die Gefahr, aneinander „vorbeizureden“, ist deshalb immer dann gegeben, wenn die Gesprächspartner sich dieser Unterschiede nicht bewusst sind. Kontrahenten interpretieren dasselbe historische Ereignis oft vollkommen unterschiedlich. Dieses gilt besonders für den palästinensisch-israelischen Kontext: Für Israelis ist der 14. Mai 1948, der Tag an dem ihr Staat ausgerufen wurde, ein Tag der Freude und Zuversicht; für Palästinenser bedeutet dasselbe Ereignis die „Nakba“, die Katastrophe, durch die sie ihre Heimat verloren. Auch 9/11 hat für Amerikaner und Europäer andere Konnotationen als für Araber und Muslime.
Dass in dieser Ausgabe des Freitag die israelische Perspektive ausgespart geblieben ist, stellt keine politische Aussage der Sonderredakteure oder der Redaktion dar. Ganz im Gegenteil. Die Motivation dazu, eine Ausgabe allein der arabisch-muslimischen Perspektive zu widmen, entsprang der Erkenntnis, dass ein Dialog gerade dann entstehen kann, wenn die jeweiligen Perspektiven Raum bekommen, sich zu entfalten. Aus unserer Sicht sind viele israelische Perspektiven in den deutschen Medien durchaus präsent.
Uns war wichtig, zunächst Autoren zu Wort kommen zu lassen, die eine authentische Sicht aus dem arabisch-muslimischen Blickwinkel vermitteln. Die Attentäter des 11. September haben nicht nur 3.000 unschuldige Menschen in den USA ermordet, sondern auch Millionen andere unschuldige Menschen andernorts zu Opfern gemacht. Wir begreifen diese Ausgabe des Freitag als Auftakt zu einem Dialog, der helfen soll, Feindbilder abzubauen. Wir berufen uns dabei auf die zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften, die Menschen auf der ganzen Welt verbinden. Verständigung ist nicht nur ein Gebot der Globalisierung, sondern auch gesellschaftliche Notwendigkeit in unserem Land.
Alexandra Senfft, geboren 1961, studierte Islamwissenschaft in Großbritannien und Hamburg. Seit 1984 bereist sie regelmäßig den Nahen Osten. Sie war Nahostreferentin der Grünen im Bundestag und arbeitete für die UNO als Beobachterin in der Westbank sowie als Pressesprecherin im Gazastreifen. Auch in Israel war sie regelmäßig tätig. Von 2006 bis 2008 assistierte sie dem Psychologen Dan Bar-On in einem Dialog-Trainingsprogramm. Seit 1994 ist Senfft freie Autorin und engagiert sich für die Zweistaatenlösung. 2009 erschien ihr jüngstes Buch mit dem Titel Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis bei der edition Körber-Stiftung
Kersten Knipp, geboren 1966, ist promovierter Romanist und lebt als freier Journalist in Köln. Seit Jahren arbeitet er über Spanien, Portugal und Lateinamerika, 2006 erschien sein Buch Flamenco, eine Kulturgeschichte des Tanzes. Nach dem 11. September entdeckte er die arabische Sprache, sie lässt ihn seitdem nicht mehr los und lenkte sein Interesse an die südlichen Ufer des Mittelmeers. Zahlreiche Reisen führten ihn nach Palästina und Nordafrika. Er schreibt regelmäßig über Kultur und Politik im Nahen Osten, u. a. für den Deutschlandfunk, die NZZ und den Freitag. Derzeit schreibt er ein Buch: Der nervöse Orient. Säkulare Traditionen in der arabischen Welt
Hamed Abdel-Samad, geb. 1972, studierte Englisch und Französisch in Kairo sowie Politik in Augsburg. Bis Ende 2009 forschte er am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München, um dann hauptberuflich Autor zu werden. Ebenfalls 2009 erschien das autobiografische Buch Mein Abschied vom Himmel, mit dem er einem breiteren Publikum bekannt wurde. Seit 2010 ist Abdel Samad Teilnehmer der Deutschen Islamkonferenz, nach der ägyptischen Revolution war er in Talkshows häufig zu Gast. Anfang Oktober erscheint sein neues Buch Krieg oder Frieden. Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens beim Droemer Verlag
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