Der alte Kontinent wirkt wie erstarrt

Europa In den USA scheint mit Obama "alles möglich". Verglichen damit ist Europa erstaunlich richtungslos – der EU-Führung ist das Ausmaß der Krise noch immer nicht klar

Die große Wirtschaftskrise verbreitet sich bis in die letzten Ecken und Enden unseres Planeten, ohne dass jemand mit Gewissheit sagen könnte, wohin sie uns trägt – und vor allem, wann und wie sie unter Kontrolle gebracht werden könnte. So wie andere Krisen äußert sich auch diese Rezession von Region zu Region anders, was freilich kaum überrascht.

Selbst im Westen lassen sich markante Unterschiede zwischen dem Epizentrum in den Vereinigten Staaten und den Ländern der Europäischen Union aufzeigen. Während sich die USA nach dem Wahlsieg von Barack Obama und der Demokratischen Partei erneut in ein Land verwandelt haben, in dem „alles wieder möglich ist“ oder wenigstens scheint, wirkt der alte Kontinent bemerkenswert erstarrt und erstaunlich richtungslos. Die EU-Ratspräsidentschaft ging Anfang des Jahres von Präsident Nicolas Sarkozy – über dessen Führung man ohne Übertreibung sagen kann, sie war sehr laut, aber wenig substanziell – in die Hände der Tschechischen Republik über. Wahrgenommen wird die Führung der Union der 27 nun von einer Regierung in Mittelosteuropa, die sich – vorzugsweise mit der Stimme ihres Präsidenten Vaclav Klaus – des öfteren nicht scheut, Zweifel und Vorurteile zu äußern, wenn es um die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft geht.

Gebot der Stunde: Einigkeit

Es ist von daher wenig wahrscheinlich, dass der Lissabonner Vertrag von allen 27 Mitgliedsländern wie vorgesehen noch in diesem Jahr unterschrieben wird und in Kraft tritt. Ob das für die EU von Schaden sein kann, wird man sehen. Zweifellos hat dieses Dokument, das bekanntlich den gescheiteren Verfassungsvertrag ersetzt, angesichts des Desasters, das der Neoliberalismus angerichtet hat, inzwischen an Bedeutung und Dringlichkeit verloren. Wir stehen an der Schwelle eines neuen politökonomischen Zyklus. Alles ist im Fluss wie lange nicht mehr. Eine Befreiung aus dem Sog der Krise wird auf anderen Wegen und mit anderen Methoden gesucht als den bisher üblichen. Allerdings sind die Maßnahmen, die dabei in Europa ergriffen werden keineswegs besser als die in den Vereinigten Staaten. Eher im Gegenteil. Vor allem gilt eines – die europäische Konjunkturpolitik ist viel weniger transparent.

Insofern ist es sehr beunruhigend, dass in vielen Führungs-Etagen der EU noch immer kein Bewusstsein für das Ausmaß der entstandenen Herausforderungen vorhanden scheint. Um so weniger wird unter diesen Umständen das Gebot der Stunde verinnerlicht, alle Kräfte zu vereinen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Das gilt – und deshalb meine Anmerkungen zu Tschechien – speziell für Osteuropa. Einige Länder, die früher zum Ostblock gehörten und nach übereilten Beitrittswellen zu EU-Mitgliedern geschlagen wurden, haben sich noch nie sonderlich europa-enthusiastisch gezeigt. Sie waren stets mehr an (ziemlich theoretischen) Sicherheitsfragen interessiert, die ihnen die NATO lösen sollte, während man die Europäische Union als Freihandelszone empfand, die sich darum kümmert, Handelsbarrieren nieder zu reißen. Völlig übersehen wurde, dass es diesem Staatenbund um das Fundament eines dauerhaften Friedens gehen und er sich deshalb als politische Gemeinschaft empfinden muss, wie das mit dem Vertrag von Maastricht schon in den frühen neunziger Jahren zum Ausdruck kam.

Erst jetzt – unter dem Damoklesschwert der Krise – reift bei einigen dieser Länder die Einsicht, dass ihre Teilnahme an der Eurozone auch ein Schutz vor deren schlimmsten Auswirkungen sein könnte. Trotzdem führt das kaum zu einem Bewusstseinswandel – viele Staaten im Osten können sich noch immer nicht dazu durchringen, der Europa der 27 als Politische Union ohne Wenn und Aber anzuerkennen und zu behandeln. Das ist in diesen Zeiten alles andere als gut für den alten Kontinent.



Mario Soares gründete 1973 die Sozialistische Partei Portugals. Er war insgesamt dreimal Premierminister seines Landes und bekleidete von 1986-1996 das Amt des portugiesischen Staatspräsidenten

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