Der Ältere bin ich

Spurensuche Hans-Ulrich Treichels Roman "Menschenflug"

Selbstfindung, Bilanzbedarf, Vergangenheitsarthrose, Familiensabbatical, muskuläre Verspannungen. Wenn solche Begriffe wie kleine Leuchtfeuer in einem Roman aufscheinen, möchte man instinktiv einen weiten Bogen um ihn machen. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an jene weinerliche Reflexionsprosa der siebziger Jahre, in der vorzugsweise Studienräte und Schriftsteller mittleren Alters durch Seelenblähungen und Erinnerungslücken gequält wurden. Nun ist Hans-Ulrich Treichel aber ein Autor, der durchaus gerne in genau derartige Lebensumstände hineinblendet und (eigene) Familiengeschichte dabei nicht ausnimmt. Doch bislang hat ihn sein lakonischer Stil davor bewahrt, in allzu große Larmoyanzen und Redseligkeiten zu geraten.

Sein jüngster Roman Menschenflug erzählt nun ebenfalls von einem Mann, der von Schuldgefühlen und Ängsten aller Art geplagt wird und ihnen auf alle erdenkliche Weise zu entkommen sucht: "Bis vor kurzem hatte er nach dem Motto gelebt: Die Älteren sind immer die anderen. Nun war er gerade dabei zu lernen, daß es nicht so war und er sich auf ein neues Motto einstellen mußte, das lautete: Der Ältere bin ich. Das konnte man eine Krise, möglicherweise sogar eine Krise der Lebensmitte nennen. Vielleicht aber war es auch nur der Anpassungsprozess eines älteren Mannes an seine Umwelt."

Die Rede ist von Stephan, einem Mittelbau-Akademiker aus Berlin, seiner Frau, einer Psychoanalytikerin, und ihren beiden Töchtern. Ihn drückt es am Herzen, das zunehmend schwächelt, und vor allem in der Seele, in der eine freudlose Kindheit ihre Narben hinterlassen hat. Sein Vater, ein Kriegsversehrter aus Ostpreußen, und seine Mutter, eine seltsam stille Frau, flohen kurz vor Kriegsende vor den Russen und mussten dabei ein Neugeborenes im Stich lassen. Dieses Trauma überschattet bis in Stephans Alpträume hinein die Geschichte dieser Familie, nur war sich Stephan dessen lange nicht bewusst gewesen, hatte den verlorenen Bruder genauso wie die gesamte Vergangenheit verdrängt. Doch nun, älter geworden, packt ihn eine "Sehnsucht nach alten Papieren", er stöbert und sucht - letztlich nicht nur nach dem Bruder, sondern nach den Gründen des Unglücks, in dem er sich zu befinden glaubt.

Treichel erzählt diese Geschichte der Ausflüchte und Fluchten, der Halbwahrheiten und des Selbstbetrugs als Mischung aus Schelmenroman und Krankheitsgeschichte. Er schickt Stephan nach Ägypten zu den Pyramiden und in die Arme einer rothaarigen Archäologieprofessorin, konfrontiert ihn mit der Bulimie seiner Tochter, arteriosklerotischer Disposition und einem überaus anhänglichen Findelkind - man könnte den Roman auch als Parodie auf freudianische Chiffren und Erklärungsmuster lesen.

Der Vielträumer und Skeptiker Stephan betreibt Familienforschung in Wolhynien und macht seinen verlorenen Bruder ausfindig, einen Misanthropen und ein körperliches Wrack. Zwischen Suchdienstanfragen, "Kindheitsgespenstern" und Streitigkeiten mit seinen Schwestern, die aus erbrechtlichen Überlegungen heraus die "Sache auf sich beruhen" lassen wollen, beutelt der Herzschmerz den sensiblen Spurensucher und zwingt ihn am Ende unversehens in den Staub am Ufer des Teltowkanals.

Man wird sich nach der Lektüre fragen, wer nun wirklich Der Verlorene (Freitag 11/1998) der beiden Brüder ist. Versehrt am Herzen sind sie wohl beide. Man muss vielleicht nicht gleich von den vererbten Traumata sprechen, auch Treichel spielt spöttisch auf der psychoanalytischen Klaviatur. Was bleibt, sind eher die kleinen Szenen: vom Findelkind Wilhelm, der Münzen sammelt, die ihm nichts bedeuten, nur um überhaupt eine Konstante in sein Leben zu bringen, vom kuriosen Familienforscher Onkel Ernst oder den alten Menschen aus Wolhynien, die bei Kaffee und Pflaumenkuchen beim Vertriebenentag ihrem Leben nachhängen. Treichel erzählt sie, aus Stephans Sicht, ohne offenkundige Rührung und doch mit einem Gefühl von Schuld, das sich der eigenen Wut - "sein Bruder gehörte ins Buch, nicht ins Leben" - schämt. Man ahnt, dass Treichels Spurensuche im Fremden, dass auch das Eigene sein kann, noch nicht zu Ende ist.

Hans-Ulrich Treichel: Menschenflug. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005,
234 S., 17,80 EUR


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