„Wünschen Sie einen Aperitif?“, fragte unlängst eine französische Kellnerin in einem unprätentiösen Restaurant in Dijon und reichte uns die Speisekarte. Eine Frage, die man hierzulande allenfalls in eher konservativen Lokalen mit Tischdecken zu hören bekommt. Bei unserem westlichen Nachbarn hingegen ist sie, auch an einem ganz durchschnittlichen Mittwochabend im Frühherbst, ein Teil der Begrüßung, denn der kulinarische Alltag folgt strikten Regeln. Von zwölf bis zwei ist Mittagspause (die, wenn irgend möglich, im Restaurant stattfindet), um 19.00 Uhr schließen die Geschäfte und im Anschluss beginnt die vielleicht wichtigste Tätigkeit des Tages – der Aperitif.
Der ist nämlich eine Art Pflicht, ein Kr
ht, ein Kristallisationspunkt des „savoir vivre“, eine Frage der Lebenseinstellung. Er verläuft im Regelfall sehr viel entspannter als bei uns – keine förmlichen Ansprachen, keine kunstvoll dekorierten Getränke, stattdessen geht es um den Moment, den Auftakt.Besagte Servicekraft konnte nicht wissen, dass wir selbiger Pflicht bereits ordnungsgemäß in einer benachbarten Bar nachgekommen waren. Vielleicht hatte sie uns aber doch gesehen und fand ein vorangegangenes keinen Grund, nicht noch ein weiteres Getränk zwischen Bestellung und ersten Gang zu schieben. Die Empfehlungen auf der Karte lauteten Champagner, Spritz Champagner und Americano, leichte Kost also. „Non merci“, antwortete ich nach kurzer Überlegung im besten Schulfranzösisch, wir seien direkt bereit für den Wein.Das mag, im Nachhinein betrachtet, vielleicht eine Spur gierig geklungen haben – die Flasche kam verdächtig schnell. Auf solche Feinheiten wurden wir damals im Schulunterricht nicht vorbereitet, auch wenn ich dem Phänomen Aperitif zum ersten Mal während eines zweiwöchigen Schüleraustauschs in den frühen 1990ern begegnete. Damals war ich in einem winzigen Dorf oberhalb der Rhône bei einer Winzerfamilie untergebracht und die Aperitif-Pflicht galt auch für 16-Jährige. Vielleicht fanden meine Gasteltern, ihres Zeichens Winzer, es aber auch einfach nur lustig, dass ich nicht besonders trinkfest war. Die Getränke der Stunde waren Batida de Coco mit Ananassaft (eine nicht unwesentlich süße Angelegenheit) oder auch „une tomate“, worunter man keinen Gemüsesaft, sondern einen Ricard mit einem ordentlichen Schuss Grenadine verstand. Der Aperitif ist aber nicht nur zeitlichen Moden und Tendenzen unterworfen, sondern besitzt zumeist auch eine regionale Prägung: im Süden eben gerne Pastis, im Westen vielleicht ein süffiger Pineau des Charentes und im Osten ein Kir aus Weißwein und Crème de Cassis.Was aber bei aller nationalen Folklore erstaunlicherweise überall geht, ist ein ordentliches belgisches Bier. Dass man sich nach wie vor in Frankreich befindet, erkennt man daran, dass ein Chouffe mitunter auch mal in einem britischen Ale-Glas serviert wird, was wiederum im Königreich eine leichte Gänsehaut erzeugen würde. Deutsche Reisende hingegen lassen sich überall in Frankreich gut daran erkennen, dass sie zu besagter Stunde gerne „ein schönes Glas Wein“ bestellen. Eine Vorstellung, die bei den meisten Franzosen und Französinnen auf mittelschweres Unverständnis stößt, denn Wein gehört zum Essen getrunken, nicht davor.Die Bezeichnung Aperitif ist übrigens abgeleitet vom lateinischen Verb „aperire“, was so viel wie öffnen oder aufschließen bedeutet. Eine ganz wunderbare französische Erfindung ist in diesem Zusammenhang, das Glas Champagner nach dem Essen als Reprise wieder aufzugreifen. Denn wenn einmal geöffnet ist, braucht man so schnell auch nicht wieder nach Hause zu gehen.