„Der arme Junge!“

Die Kosmopolitin Mein Sohn hat jetzt Dreadlocks. Dadurch hat er etwas über Schmerz und Ehrgeiz gelernt – und sehr viel über Bilder im Kopf
Ausgabe 22/2017
Die Haare zu „dreaden“ braucht Zeit und bringt Schmerz
Die Haare zu „dreaden“ braucht Zeit und bringt Schmerz

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Mein Sohn hat seit ein paar Tagen Dreadlocks, und mein bester Freund sagt, er ist zehn Jahre zu früh dran. Mein Sohn ist sieben, von den Dreadlocks hat er ein Jahr lang geträumt, er hat sich die Haare wachsen lassen, sie geduldig aus dem Gesicht geschoben, im Sommer geschwitzt und allen Seufzern meiner Mutter, die in einem Ton, als würde dem Jungen Schlimmstes angetan, fragte, ob sie ihn nicht stören, widerstanden. Die Haare zu „dreaden“ – ein Verb, das mein Sohn und ich am selben Tag lernten – hat acht Stunden gedauert und ziemlich geschmerzt. Sein Papa sagt, er habe geweint, aber er wollte nicht aufhören, er wollte gern Papas Hand zum Drücken. Sein Bruder sagt, er hat ihm auch mal die Hand zum Drücken gegeben, und er klingt ganz stolz. Sein Bruder sagt, er selbst möchte eine coole Frisur, weshalb er darauf achtet, dass seine Haare regelmäßig geschnitten werden, und wie unterschiedlich die Kinder den Begriff „cool“ verwenden, sagt etwas darüber aus, wie inhaltsleer oder subjektiv dieses Adjektiv ist. Ich bin die Mutter, und ich war beim „Dreaden“ nur eine halbe Stunde dabei, weil ich arbeiten musste. Dass ich überlegt habe, „ich bin die Rabenmutter“ zu schreiben, sagt etwas über das Mütter-Bild unserer Gesellschaft aus oder über mich, meine ständigen Selbstzweifel.

Während mein siebenjähriger Sohn seine Haare „gedreadet“ bekam, saß ich mit einem Kollegen gebeugt über Fotos und Bilder, die wir zu ordnen und zu verbessern versuchten. In einem Text hatte ich von Migranten geschrieben, die man früher Ausländer genannt habe, und vom Beiklang, der in diesem Wort steckt. Der Kollege stieß sich an diesem Satz, er sagte, sein Vater, in Garmisch-Partenkirchen, der sage das immer noch so. Er sagte, in Garmisch, da sage man das eben so, da sage man auch „Neger“, man meine das nicht böse, und als er versucht habe, über diese Begriffswahl zu reden, habe man ihn nicht verstanden, warum. Das sei doch einfach nur eine Beschreibung.

Mein Vater ist einer der Ersten, der die Dreadlocks sieht. Mein Sohn weigert sich, sich fotografieren zu lassen, weil er alle, die er kennt, überraschen will. Meiner Mutter hatte ich ein Bild vom Prozess des „cs“ geschickt, da hat sie mir mit „Der arme Junge!“ geantwortet, und ich befürchte, dass das „arm“ sich nicht darauf bezog, dass es an den Haaren ziepte und zog. Mein Sohn will seine Großeltern über Skype anrufen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht auch ein wenig erleichtert bin, dass meine Mutter im Kino ist. Mein Vater sagt, „hmm, mir hat es vorher besser gefallen“, und zu mir sagt er, warum habt ihr das denn gemacht. Mein Sohn ruft dann noch eine Freundin an, deren Eltern gerne auf Musik-Festivals fahren, und die drei rufen einstimmig aus: „Wie cool!“

Wenn mein bester Freund sagt, mein Sohn sei zehn Jahre zu früh dran mit den Dreadlocks, weiß ich nicht, ob das nicht eine versteckte Kritik sein soll, oder etwas über meine ständigen Selbstzweifel aussagt. Ich fragte mich, wie ich reagiert hätte, hätte mein Sohn sich einen glatt rasierten Kopf gewünscht. Seit einem Jahr hat sich mein Sohn die Haare wachsen lassen, seit einem Jahr hat eine der Kindergärtnerinnen zu uns gesagt, wir sollen ihm doch bitte die Haare schneiden. Ich sehe meinem Sohn zu, wie er mit seinen Dreadlocks in die Kita rennt, um sie zu zeigen. Mein Sohn hat den Begriff „dreaden“ gelernt, etwas über Schmerz und Ehrgeiz und sehr viel über Bilder im Kopf.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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