Der Aufwand der Fischer

Neorealismus Luchino Visconti drehte 1947 „La terra trema“ mit Einheimischen im sizilianischen Aci Trezza. Eine Spurensuche
Ausgabe 31/2014

Gäbe es einen Atlas der bemerkenswertesten Drehorte, wäre Aci Trezza mit Sicherheit darin verzeichnet. Das verdankt der sizilianische Fischerort Luchino Viscontis Film La terra trema (Die Erde bebt), der zu den herausragenden Werken des Neorealismus zählt. Aci Trezzas Ambiente, das wechselnde Licht und die Urkräfte des Meeres werden in La terra trema – von Kameramann Aldo Graziati virtuos ins Bild gesetzt – zu Mit- und Gegenspielern der Charaktere. Dass der Film hier realisiert wurde, war kein Zufall; auch die literarische Vorlage I Malavoglia, der veristische Roman von Giovanni Verga, spielt in Aci Trezza. Visconti und sein Co-Autor Antonio Pietrangeli hatten die Handlung frei adaptiert und aus dem 19. Jahrhundert in die damalige Gegenwart verlegt.

La terra trema erzählt am Beispiel der Familie Valastro vom entbehrungsreichen Dasein sizilianischer Fischer. Weil der Vater im Kampf gegen die Kräfte der Natur sein Leben verloren hat, müssen die Söhne für den Unterhalt der Familie sorgen. Jeden Tag fahren sie auf das Meer hinaus. Doch die Preise, die die Großhändler für die Fische zahlen, sind zu niedrig. Ein spontanes Aufbegehren gegen die ausbeuterischen Verhältnisse wird niedergeschlagen. Alle finden sich damit ab, nur Ntoni, der älteste der Valastro-Söhne, will die Bedingungen nicht länger akzeptieren. Er nimmt eine Hypothek auf das Elternhaus auf, kauft ein eigenes Boot und arbeitet selbstständig.

Der Plan scheint aufzugehen, aber weil Ntoni und seine Brüder bei jedem Wetter fischen müssen, um den Kredit abzuzahlen, geraten sie irgendwann in einen Sturm. Das Boot wird zerstört, das Haus gepfändet – die Valastros werden im Dorf ausgegrenzt. Ntonis Traum, seine geliebte Nedda zu heiraten und eine Familie zu gründen, rückt in weite Ferne. Auch der Ruf seiner Schwestern Mara und Lucia nimmt Schaden. Bruder Cola folgt dem Werben der Fremdenlegion. Um den endgültigen sozialen Abstieg abzuwenden, gibt Ntoni seinen Widerstand auf und unterwirft sich wieder dem Diktat der Großhändler.

Visconti war Anfang 40 und erfolgreicher Bühnenregisseur, als er sich dem Projekt zuwandte. Dass der Conte Don Luchino Visconti di Modrone, ein Feingeist, der dem Mailänder Hochadel entstammte und einer der wohlhabendsten Familien Italiens angehörte, den Entschluss fasste, einen Film über soziale Ungerechtigkeit zu drehen, hat eine Vorgeschichte: Schon in den 1930er Jahren war er als Assistent von Jean Renoir durch dessen poetischen Realismus und die sowjetische Filmkunst beeinflusst worden. In Italien schloss sich Visconti einer Gruppe linker Intellektueller um die Zeitschrift Cinema an, die für eine Erneuerung des italienischen Films eintrat.

Casting in der Trattoria

1942 drehte Visconti Ossessione (Besessenheit), sein Debüt, das wie die Werke von Roberto Rossellini und Vittorio De Sica (etwa: Rom, offene Stadt, 1945; Paisà und Schuhputzer, 1946) für den proklamierten Bruch steht, den der Neorealismus hervorbrachte. Eine offene, heterogene filmkünstlerische Bewegung ohne dogmatische ästhetische Regeln und kollektive Zwänge, deren Gemeinsamkeit in der unbedingten Darstellung der Wirklichkeit und ihrer Widersprüche bestand.

Nachdem Visconti im Sommer 1947 das Konzept für La terra trema entwickelt hatte, reiste er nach Sizilien, um die Dreharbeiten vorzubereiten. Geld gab es zunächst nur von der Kommunistischen Partei, für die die Verhältnisse im Mezzogiorno Wahlkampfthema waren und die sich von Viscontis Film Stimmengewinne versprach. Dabei sah der Entwurf für La terra trema nicht wie die Vorlage für einen propagandistischen Dokumentarfilm aus. Vielmehr verfolgte Visconti die Idee, eine Trilogie über die aktuelle soziale Situation zu realisieren: „Drei Aspekte der Arbeit, die für Sizilien typisch ist, aber auch drei Aspekte ein und desselben Kampfes gegen die Feindseligkeit der Dinge und der Menschen.“ Der erste Spielfilm sollte von den Fischern in Aci Trezza handeln, die anderen von den Schwefelarbeitern und Bauern.

Es muss Visconti früh klar gewesen sein, dass das Vorhaben nicht mit professionellen Schauspielern realisiert werden konnte, wollte er die Aura dieser Geschichten nicht durch darstellerische Künstlichkeit konterkarieren. Wenn sich im Film die Valastro-Brüder nach getaner Arbeit aus Sklaven ihrer Verhältnisse in lebendige Menschen zurückverwandeln, entspringt jede Nuance ihres Spiels intensiver Selbsterfahrung. Besonders in den stummen Szenen erreichen die Laiendarsteller einen Ausdruck, der La terra trema für die Zuschauer unvergesslich macht, etwa wenn die schwarz gekleideten Frauen Ausschau nach dem Boot der Männer halten, die im Sturm um ihr Leben kämpfen. Diese darstellerischen Urkräfte aufgespürt und zur Entfaltung gebracht zu haben, ist der großen Meisterschaft des Regisseurs zu verdanken, der einen rigorosen Inszenierungsstil praktizierte. „Wenn die Szene nicht perfekt war, wurde sie so lange wiederholt, bis Visconti zufrieden war“, erzählt die heute 86-jährige Darstellerin der Mara Valastro.

Es ist bemerkenswert, dass es Visconti und seinen Assistenten Francesco Rosi und Franco Zeffirelli gelang, alle Rollen mit Einheimischen zu besetzen, was besonders für die im Mittelpunkt der Geschichte stehende Familie Valastro gilt: Der rebellische Ntoni Valastro wurde von Antonio Arcidiacono, einem Fischer, gespielt, sein Bruder Cola von Giuseppe Arcidiacono. Anders als die beiden jungen Männer sind ihre Filmschwestern Mara und Lucia auch im wirklichen Leben verwandt: Visconti hatte Agnese und Nelluccia Giammona in der Trattoria ihrer Eltern entdeckt. Wenn den Mädchen während der langen Drehzeit einmal die Motivation verloren ging, ermunterte sie der Regisseur: „Eines Tages werdet ihr sehen, was wir hier gerade tun.“

Leere Meere

Heute noch empfinden es beide als großes Glück, in La terra trema mitgespielt zu haben: „Für uns war es eine wunderschöne Zeit, und alle erinnern sich an uns. Es war etwas Internationales, nicht einfach nur so.“ Die Schwestern leben nach wie vor in Aci Trezza. An den Wänden der Trattoria Verga da Gaetano, die noch immer im Familienbesitz ist, hängen unzählige Plakate und Fotos mit Motiven aus La terra trema. Allmählich bleichen sie aus, aber trotz der Aussicht auf die berühmten Zyklopensteine ziehen sie die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich.

Am Ende der Dreharbeiten dankte die Filmfamilie Luchino Visconti und seinem Team in einem offenen Brief. Sie hatten gespürt, dass der Film die Würde ihres einfachen Lebens bewahrt und durch Empathie und künstlerische Sorgfalt gestärkt hatte. Trotz der gezeigten Armut und der Kargheit der Motive ist die Bildsprache opulent. Aber die Kamera bedrängt die Charaktere nicht, sondern nimmt den Rhythmus ihrer Handlungen auf, so wie der Filmton die alltäglichen Geräusche des Ortes zu leitmotivischer Intensität verdichtet.

Trotz oder wegen seiner Qualität – der Film gewann in Venedig 1948 einen internationalen Preis und wurde zu einem Klassiker des Weltkinos – war La terra trema kommerziell ein Desaster: Der sizilianische Dialekt der Laiendarsteller war den meisten Italienern fremd, die Dialoge mussten synchronisiert und der Film gekürzt werden. Zudem wurde während seiner Entstehungszeit die staatliche Filmkontrolle wieder eingeführt. Das italienische Kino geriet unter den Einfluss der katholischen Kirche, amerikanischer Filmverleiher und der christdemokratischen Kulturpolitik: „Unsere italienische Öffentlichkeit wünscht auf der Leinwand andere Filme zu sehen, gute Filme, die dem Geschmack unserer Zuschauer entsprechen“, proklamierte ein Democrazia-Cristiana-Abgeordneter die Linie seiner Partei gegen die Filme des Neorealismus.

Die anderen Teile der sizilianischen Trilogie wurden nie realisiert. So blieb das große Finale aus, das vom Sieg der vereinten Kräfte der Unterdrückten über ihre Unterdrücker handeln sollte. Erst ganz am Ende wäre das – auch symbolische – Beben der Erde erklungen (das als Titel des Films über die Fischer zwar poetische Kraft entfaltet, aber unverständlich anmutet). Viscontis Vision hat sich weder filmisch noch politisch erfüllt, aber die Dreharbeiten von La terra trema hatten positive Folgen für die soziale Situation von Aci Trezza: „Visconti hat dem Ort einen Schub gegeben“, berichtet Agnese Giammona. „Die Fischer konnten mit den Filmgagen neue Motoren und größere Schiffe kaufen.“ Heute sei das Mittelmeer weitgehend leergefischt. Außerdem hat die Finanzkrise zu einem Einbruch der Preise geführt. Konnten früher 80 Prozent der Einwohner vom Fischfang leben, sind es jetzt deutlich weniger. Ihre Zukunft ist ebenso ungewiss wie die des gesamten Landes.

Die italienische Politik wirkt orientierungslos, die Wirtschaft ist kaum wettbewerbsfähig (im ersten Quartal 2014 verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt um 0,1 Prozent) – beides Faktoren, die den strukturschwachen Süden besonders belasten. Dabei ist in Aci Trezza auf den ersten Blick kaum etwas von der Krise zu sehen. Die Badestrände sind bevölkert, Restaurants und Cafés gut besucht. Ein kleines Museum, das wie das Haus der Valastros Casa del Nespolo heißt, erinnert an La terra trema; nach Visconti wurde ein Platz benannt. Das dortige Café trägt seinen Namen und ist ein Treffpunkt mit freiem Internetzugang.

Der gemäßigte Tourismus tut Aci Trezza gut: Viele Menschen kommen her, nur um die vorgelagerten Isole dei Ciclopi zu sehen – eine Inselgruppe aus riesigen Steinen, die der betrunkene Zyklop Polyphem, der griechischen Mythologie zufolge, Odysseus hinterhergeschleudert hat: „Er riß einen ganzen Felsblock aus dem Gebirge heraus und warf ihn nach unserem Schiffe“, erzählt Gustav Schwab, der Sammler der Sagen des klassischen Altertums, die Geschichte nach. Richtig lebendig wird Aci Trezza im Sommer erst am Abend. Bis weit nach Mitternacht flanieren Hunderte über die Strandpromenade: Paare jeden Alters, Familien mit kleinen Kindern, Einzelgänger, Gruppen und viele junge Mädchen in High Heels und superkurzen Shorts – kleines Kino für die vielen, die in den lauen Nächten ihr Leben genießen. Daran, dass man an den Verhältnissen etwas ändern kann, scheinen nur wenige Sizilianer zu glauben. Doch soziale Ungewissheit und Zukunftsängste – viele Immobilien stehen zum Verkauf – lassen sich in freundlicher Gesellschaft leichter aushalten.

Auch die Probleme derer, denen es wirklich schlecht geht, erreichen Aci Trezza: 2013 war zum ersten Mal ein Flüchtlingsboot aus Afrika nur wenige Kilometer von hier entfernt gelandet. Ein „absolut unüblicher Vorgang“, vermeldete damals die sizilianische Küstenwache, die von einem Navigationsfehler ausging. Seither kommt die Insel nicht mehr zur Ruhe, wie man auf deutschsprachigen Nachrichtenseiten verfolgen kann: „Etwa 3000 Flüchtlinge aus Nordafrika haben am Samstag Italien erreicht. Die Menschen gingen bei italienischen Schiffen an Bord oder wurden in ihren Booten nach Sizilien abgeschleppt.“ / „Die italienische Küstenwache hat auf einem Flüchtlingsboot vor der Küste Siziliens rund 30 Leichen entdeckt.“ / „Nach einem Schiffsunglück vor Sizilien werden laut Angaben von Überlebenden weiterhin 75 Menschen vermisst.“ Italien wird mit einer Tragödie allein gelassen, die eine globale Angelegenheit ist. Zeit für ein Beben.

Anna Luise Kiss ist Medienwissenschaftlerin, Schauspielerin und Sprecherin, Dieter Chill Kameramann und Autor

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