Der blinde Engel der Geschichte

Textgalerie Karl Mickel: Sie

In Alterswerken großer Meister blühen oft die Allegorien. So liegt es nahe, das grimmig vor sich hin fluchende Wesen, das da in einem späten Gedicht Karl Mickels durch das Dickicht der Städte stapft, als finsteren Engel der Geschichte zu identifizieren. Was mutet uns diese namenlose "Sie" zu, die an die urbanen Ränder gelangt und bald darüber hinaus strebt? Nichts als Flüche und unflätige Gesänge, nichts als die immer größer werdende Entfernung zu unserer universell verriegelten Lebenswelt. Nichts kann dieses Geschöpf aufhalten, mit großer Entschlossenheit bahnt es sich seinen Weg durch Zäune und Verhaue. Viel spricht dafür, dieses weibliche Wesen als eine allegorische Personifikation der Geschichte zu entziffern, zumal Mickel auch eine Anspielung auf die Denkfiguren der Dialektik in sein Gedicht platziert hat - mit seinem diskreten Hinweis auf die "höhere Gestalt" der Stadtgängerin, ein Motiv, das auf den Fortschrittsglauben materialistischer Geschichtsphilosophien referiert.

In der DDR galt Karl Mickel als zwar staatsbejahender, aber auch skeptischer Materialist, der von den Literaturpolizisten misstrauisch beäugt oder gleich als "krankhaft" abgetan wurde. Sein an Goethe und Brecht geschulter Klassizismus verbündete sich mit einer gewissen Derbheit, die er den proletarischen "Leuten vom Berliner Hof" (Mickel) ablauschte. Im vorliegenden Gedicht gibt es ein ironisch-kokettes Spiel mit den wirkungsmächtigen Topoi des linken Geschichtsoptimismus. An die Peripherie geraten, blickt sich die namenlose "Sie" noch einmal um - verwandt darin Walter Benjamins Engel der Geschichte, der ja beim Blick auf die Vergangenheit "eine einzige Katastrophe" sieht, "die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft". Bei Mickel scheint die Gestalt der namenlosen "Sie" immer größere Dimensionen anzunehmen. Aber der visionäre Blick bleibt ihr verwehrt, der Engel der Geschichte ist zur Blindheit verdammt: "Sie wandte sich. Ich sah die schwarzen Zähne / Und sahe die vernähten Augenlider."

In seinen späten Gedichten konnte Mickel mit seiner kalten Virtuosität im Gebrauch des jambischen Versmaßes und mit seiner ausgeklügelten Formbeherrschung im stoischen Altersstil noch einmal zeigen, warum er als "die Autorität der deutschen demokratischen Lyrik" (Bert Papenfuß) bewundert worden ist. Für die Hoffnungen auf die demokratische Transformation der realsozialistischen Welt hatte er am Ende nur noch Hohn übrig, so auch in einem Gedicht über Wandlitz, das in zeitlicher Nähe zum vorliegenden Text entstanden ist: "Die blinde Nymphomanin mit dem Streukrebs / War das die Dame Hoffnung".


Karl Mickel, der Lyriker, Dramaturg, Librettist, Schauspiel- und Poetik-Dozent, wäre am 12. August 70 Jahre alt geworden. Er starb am 20. Juni 2000 in Berlin. Das vorliegende Gedicht ist dem Band Geisterstunde entnommen, der im Frühjahr 2004 im Wallstein Verlag erschienen ist.


Karl Mickel

Sie

Ein wenig fröstelnd aber leichten Fußes
Ging sie dahin am Rand der Stadt und fluchte
Der Ton melodisch, dass die Knospen sprangen
Die Worte Unflat, dass der Schlamm erbebte.

In sich versunken an dem fremden Orte
Drang sie hindurch durch Zäune und Verhaue
Nur ihr Kontur ward trübe in den Mauern
Doch höher die Gestalt, die draus hervorging.

Sodaß alsbald, je mehr sie sich entfernte
Der Erde Krümmung ihre Wade deckte
Des Schrittes Schwung der Blicke Winkel ausmaß
Und auf dem Scheitel jäh der Pol-Stern flammte.

Sie wandte sich. Ich sah die schwarzen Zähne
Und sahe die vernähten Augenlider.


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