Die erste Bombe trifft das Dorf Deir al-Hajari im Nordwesten des Jemen am 8. Oktober 2016 gegen drei Uhr nachts. Der Luftangriff tötet eine sechsköpfige Familie: eine schwangere Mutter, ihren Mann, die vier Kinder. Die Überlebenden müssen zusehen, wie ihre Häuser durch den Luftangriff zerstört werden. Am nächsten Morgen werden in Deir al-Hajari Überreste einer Bombe und ein Aufhängehaken von RWM Italia S.p.A. gefunden, auf dem die Seriennummern mit dem Herstellungsdatum Juni 2014 eingraviert sind: Reste einer Paveway-II-Bombe, die damals zu den modernsten gehörte. Offenbar wird ein fragwürdiges Geschäftsmodell der internationalen Rüstungsindustrie, das vom Kriegsschauplatz zur Urlaubsinsel Sardinien führt, wo die Rheinmetall-Tochter RWM Italia einen globalen Bomben-Supermarkt beliefert – als Teil eines verschachtelten Systems, zu dem lukrative Deals mit Partnern im Nahen Osten gehören.
Im Dezember 2010 hatte der deutsche Rüstungsriese Rheinmetall die schwächelnde Società Esplosivi Industriali S.p.A. (SEI) von der französischen EPC Group aufgekauft und als 100-prozentige Tochterfirma RWM Italia in sein Firmennetz eingegliedert. Bei der Übernahme lag der Umsatz bei rund 20 Millionen Euro, sollte aber in den Folgejahren sprunghaft ansteigen, als die Firma mehr als die Hälfte bis ein Drittel ihrer Umsätze durch Exporte an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bestritt. Produziert wurde auf einem etwa 300.000 Quadratmeter großen Gelände in einer ärmlichen Gegend nahe der 6.000-Einwohner-Gemeinde Domusnovas mit einer Anbindung an die Häfen Sant’Antioco und Cagliari. Von dort gingen nach Schätzungen der italienischen NGO Rete Disarmo bisher Zehntausende von Bomben in den Jemen-Krieg. Deutsche Kontrollen blieben wirkungslos, die Regierung in Rom gab die Ausfuhren frei.
Doch sind Deutschland und Italien nicht die einzigen EU-Staaten, die an derartigen Lieferungen beteiligt sind. Es gibt einen dritten Protagonisten: Großbritannien. Die gut 4.000 Bomben, die zwischen 2013 und 2017 für 63 Millionen Euro allein an Saudi-Arabien geliefert wurden, produzierte RWM Italia als Subunternehmer des britischen Herstellers Raytheon Systems Limited. Diese Kooperation ist ein Beispiel dafür, wie durch internationale Verflechtung ein globaler Waffen-Supermarkt bestückt wird, von dem der Krieg im Jemen zehrt.
Raytheon Systems wird von dem US-Unternehmen Raytheon Company über die britische Holding Raytheon United Kingdom Limited kontrolliert und unterhält direkte Vertragsbeziehungen mit dem Verteidigungsministerium in Riad. Es ist nicht bekannt, ob davon auch zusätzliche Waffensysteme erfasst sind. Als gesichert gilt, dass im November 2012 der Auftrag über 3.950 Mk-83-Flugbomben an RWM Italia erteilt wurde, die innerhalb von knapp fünf Jahren geliefert werden sollten. Dies geht aus einer bisher unveröffentlichten Untersuchung zu Waffenexporten aus Sardinien hervor, zu der es kam, nachdem im Mai 2017 von italienischen Bürgern vier Beschwerden eingereicht wurden
NGO am Tatort
2016 wurde Großbritannien im EU-Parlament als wichtigster Handelspartner der saudischen Monarchie kritisiert. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI ist Saudi-Arabien nach Indien weltweit der größte Waffeneinkäufer. Zwischen 2012 und 2016 gingen etwa 27 Prozent der saudischen Rüstungsaufträge an Firmen im Vereinigten Königreich. Im Vorjahr entschied der britische High Court, dass der Waffenhandel mit Riad trotz des Jemen-Krieges zulässig sei, doch wurde es der britischen NGO Campaign Against Arms Trade (CAAT) von eben diesem Gericht gestattet, am 5. Mai 2018 gegen die Verlängerung britischer Lizenzen für Waffenexporte nach Saudi-Arabien Berufung einzulegen. Der Rüstungsexperte Andrew Feinstein beobachtet wachsenden Widerstand gegen eine wie entfesselt wirkende Ausfuhrpolitik. „Ein großer Teil des Post-Brexit-Wirtschaftsmodells folgt der Idee, dass die britische Verteidigungsindustrie der wichtigste oder einer der wichtigsten Exporteure für die britische Ökonomie sein wird. Die Regierung will alle regulatorischen Hürden für die Rüstungsindustrie aus dem Weg schaffen, damit die Konzerne freie Hand haben.“
Norwegen, Schweden und die Niederlande haben den Verkauf von Waffen an Riad verboten. In Italien sind entsprechende parlamentarische Bemühungen bisher gescheitert. Und obwohl sich die deutsche Regierung im Koalitionsvertrag auf ein Exportverbot für alle „unmittelbar“ am Jemen-Krieg beteiligten Länder festgelegt hat, bleibt unklar, wie das umgesetzt werden soll. Erkennbar ist: Bereits abgeschlossene Verträge laufen weiter. Trotz des Exportstopps wurden im ersten Quartal 2018 Rüstungsexporte an Saudi-Arabien im Wert von 161,8 Millionen Euro genehmigt – dreimal mehr als im Vorjahreszeitraum.
Mit der „Internationalisierungsstrategie“, sprich: einem Netz von Tochter- und Gemeinschaftsunternehmen im Ausland, wie RWM Italia, ist Rheinmetall ohnehin in der Lage, deutsche Kontrollen zu umgehen, die eigentlich verhindern sollen, dass Rüstungsgüter mit deutscher DNA in Kriegsgebieten wie im Jemen zum Einsatz kommen.
Der Zusammenhang zwischen der Zunahme der Rüstungslieferungen aus Italien und dem Jemen-Konflikt ist evident. Mit ihrem Eingreifen wollen die Saudis die Regierung des einstigen Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi wieder an die Macht bringen, der im Januar 2015 nach der Übernahme der Hauptstadt Sanaa durch die Huthi-Rebellen zum Rücktritt gezwungen wurde und später das Land auf dem Seeweg nach Saudi-Arabien verließ. Im März 2015 begann eine Koalition aus neun arabischen wie afrikanischen Ländern unter saudischer Führung die von den Huthi kontrollierten Regionen des Jemen anzugreifen, vorzugsweise aus der Luft.
Laut Yemendataproject.org flog diese Allianz innerhalb von drei Jahren insgesamt 16.847 Luftangriffe – durchschnittlich 474 pro Monat. Fast ein Drittel davon richtete sich gegen nicht militärische Ziele wie Farmen, Märkte, Kraft- und Wasserwerke, Lebensmittellager und Krankenhäuser. „Es gibt keinen Ort, der sicher ist. Alles kann angegriffen werden“, sagt Bonyan Gamal, Rechtsassistentin bei der NGO Mwatana, die im Jemen Menschenrechtsverbrechen und Luftangriffe dokumentiert. An Orten, die besonders unter Beschuss stehen wie Sanaa, würden die Menschen sich ein Loch neben ihrem Haus graben, so Gamal, um dort aufzuharren und zu schlafen. Es war eine Mitarbeiterin von Mwatana, die am Morgen des 8. Oktober 2016 nach dem Luftangriff auf Deir al-Hajari zum Tatort fuhr, um Zeugen zu interviewen, den Schaden und die Bombenreste zu fotografieren.
Der Luftangriff mit den sechs Opfern ist der erste Fall, bei dem sowohl ein Verbrechen als auch Bombenteile am Tatort – und damit Indizien für die Beteiligung von RWM Italia – dokumentiert sind. Auf dieser Grundlage haben die NGOs European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gemeinsam mit Mwatana und dem italienischen Abrüstungsnetzwerk Rete Disarmo am 17. April 2018 bei der Staatsanwaltschaft Rom Strafanzeige gestellt, deren Text dem Freitag vorliegt. Beantragt sind Ermittlungen gegen die italienische Behörde für die Genehmigung der Waffenausfuhr (UAMA), die für die Exporterlaubnis verantwortlich ist, und gegen Manager von RWM Italia – wegen der Mitschuld am Tod der Familie durch grobe Fahrlässigkeit oder Beihilfe zum Mord. Sie ließen die Bombenausfuhren zu, obwohl ihnen die Zustände im Jemen bekannt waren.
Zur ersten Lieferung im Rahmen des von RWM Italia und Raytheon im Jahr 2012 unterzeichneten Vertrages über den 4.000-Bomben-Deal kam es am 25. Oktober 2013 im Hafen von Sant’Antioco, während der letzte von den Ermittlern kartierte Export am 29. Juli 2016 über die Kaianlagen von Cagliari abgewickelt wurde. Dazwischen gab es fünf weitere Seetransporte ab Sant’Antioco und drei Flüge der aserbaidschanischen Fluggesellschaft Silk Way Airlines in den Jahren 2015 und 2016 vom Zivilflughafen Cagliari-Elmas. Empfänger war in allen Fällen die Royal Saudi Air Force (RSAF).
Erkenntnisse zum Vertrag zwischen RWM Italia und Raytheon Systems ergeben sich aus der Erklärung von Fabio Sgarzi, dem CEO von RWM Italia, vor der Justizpolizei von Cagliari vom 3. November 2016, der zu Bombenexporten vom Flughafen Cagliari-Elmas sagte: „Sie sind alle mit Sprengstoff beladen, aber sie brauchen eine Bombenspule und ein Lenkbomben-Kit. Diese Komponenten werden nicht von RWM Italia geliefert, sondern direkt von den Streitkräften beschafft und montiert. In diesem Fall von der saudischen Luftwaffe.“ – Auf welche Kits bezieht sich die Aussage des CEO? Mutmaßlich handelt es sich um die Paveway-Laser- und GPS-Leitsysteme, die dumme Bomben in „intelligente“ Aggregate verwandeln können. Raytheon, die Mutterfirma von Raytheon Systems, ist das weltweit führende Unternehmen für Paveway IV, die neueste Generation intelligenter Geräte, die in Saudi-Arabien weitverbreitet ist.
Expansionsprogramm
Es scheint so, als hätte RWM Italia bis vor Kurzem keine direkte Rolle bei der Herstellung von intelligenten Bomben gespielt, doch hat sich das möglicherweise geändert. Tatsächlich hat RWM Italia bereits in der Bilanz von 2016 Investitionen in neue Ausrüstung und Anlagen, die für die Serienproduktion von „PWIV Tactical Penetrator“, also den oberen Teil einer Paveway-IV-Bombe, notwendig sind, offenbart und mit dem Kunden Raytheon Systems Limited vereinbart. Darüber hinaus erhielt Fabio Sgarzi von der damaligen italienischen Regierung im Mai 2017 die Erlaubnis, ein neues, explosives Produkt namens „Paveway IV Tactical Penetrator air bomb, loaded in PBXN-109“ herzustellen. Der Jahresbericht von RWM Italia 2017 zeigt schließlich, dass die Anlagen für neue Produkte – darunter Paveway IV TP – mit hervorragenden Ergebnissen entwickelt wurden.
Diese Maßnahmen waren Teil des „Expansionsprogramms“, das den Bau neuer Depots, neuer Abteilungen und eines kleinen Komplexes innerhalb der Domusnovas-Fabriken für die Prüfung von Sprengstoffen umfasst. Armin Papperger, der CEO von Rheinmetall, hatte auf der Hauptversammlung 2016 Investitionen in Höhe von 40 Millionen Euro zugesagt. Heute beginnen diese Investitionen sich auszuzahlen. Die Geschäfte von RWM Italia boomen. Im Jahresbericht 2017 heißt es: „Der Auftragsbestand des Unternehmens beläuft sich auf rund 510 Millionen Euro.“ Das Expansionspaket werde – so der Text weiter – „es dem Unternehmen ermöglichen, in den nächsten vier oder fünf Jahren mit der gleichen Produktionsrate wie 2017 fortzufahren“. Ein Rhythmus, der erst im Vorjahr zu einem Umsatz von 90 Millionen Euro geführt hat. Künftig laufen auf Sardinien also Lenkbomben betriebsfertig vom Band – ein Plug-&-Play-Produkt für den Bomben-Supermarkt der Welt.
Diese Recherche wurde durch ein Stipendium von Journalismfund.eu gefördert.
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