Spätestens seit der Veröffentlichung von Herbert Marcuses als Aufklärungsarbeit im Auftrag des US-amerikanischen Geheimdienstes entstandenen Feindanalysen ist bekannt, dass die Protagonisten der frühen so genannten Frankfurter Schule sich keineswegs vor den Niederungen der Tagespolitik scheuten. Angesichts der in Deutschland herrschenden Barbarei kooperierten sie während ihres amerikanischen Exils mit den Institutionen staatlicher Macht. Nicht nur Marcuse, auch die der Frankfurter Schule nahestehenden Staatstheoretiker Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer arbeiteten zeitweise mit der amerikanischen Geheimdienstabteilung Office for Strategic Services (OSS), insbesondere mit deren Ressort Research and Analysis (R A), zusammen.
Kommunismusforschung
Daraus entstand ein
Daraus entstand ein Austausch, der sich vielfach bis in die Zeit des Kalten Krieges fortsetzte. Die empirischen Studien von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm im Umfeld ihrer Untersuchung über den autoritären Charakter, Franz L. Neumanns große Arbeit über den Behemoth, die sich mit der Struktur und Praxis nationalsozialistischer Herrschaft beschäftigt, aber auch Marcuses lange Zeit kaum rezipiertes Buch über den Sowjetmarxismus, einer der frühesten und wichtigsten Beiträge zur Kommunismusforschung, wären ohne diesen institutionellen Zusammenhang kaum möglich gewesen.Nach Martin Jays monografischen Arbeiten zur frühen Kritischen Theorie hat sich der historische Fokus der Forschung zur Frankfurter Schule immer stärker auf deren Auftragsarbeiten im Dienst antifaschistischer und antitotalitärer Politik der USA verlagert. Zuletzt hat Thomas Wheatland in seinem Buch The Frankfurt School of Exile die plausible These vertreten, dass nur die Vernachlässigung dieser Konstitutionsphase der Kritischen Theorie es ermöglicht hat, ihre ideologische und praktische Bedeutung für die Studentenbewegung, sei es apologetisch oder kritisch, einseitig hervorzuheben. Tim B. Müller, der seit 2010 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet, geht in seiner monumentalen Dissertation über Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg noch einen Schritt weiter. Seine Untersuchung legt nahe, allein von jenen „dienstlich“ produzierten Arbeiten der Frankfurter Schule aus der Zeit des Exils bis zum Kalten Krieg her lasse sich deren Theoriebildung überhaupt angemessen erschließen.Müllers Buch entfaltet diese These in sechs großen Kapiteln, die der Zusammenarbeit der Frankfurter Schule mit dem US-amerikanischen Geheimdienst nachgehen. Untersucht werden ihre Kooperationen mit einflussreichen Stiftungen, besonders der Rockefeller Foundation, ihre politische Arbeit zur Zeit des McCarthyismus, ihre antifaschistische und kommunismuskritische Aufklärungsarbeit in den USA sowie schließlich ihre Bedeutung für die Friedensbewegung und die außerparlamentarischen politischen Bewegungen.Brot- und AuftragsarbeitenDie bewunderungswürdige Stärke der Studie liegt in der immensen Materialfülle, die sie zu bewältigen vermag, sowie in dem strikt durchgehaltenen Ansatz, den historisch-materialistischen und praktischen Impuls der Gründungsväter der Frankfurter Schule ernstzunehmen, indem deren Brot- und Auftragsarbeiten zur Grundlage der Untersuchung gemacht werden. Ihre Schwäche liegt aber nicht allein darin, dass sie über die Darstellung und Paraphrase des Materials den theoriegeschichtlichen Zusammenhang immer wieder aus den Augen verliert, sondern auch in ihrem institutionen- und diskursgeschichtlichen Zugriff, der den Einfluss der Rahmenbedingungen geistiger Arbeit auf deren Substanz zwangsläufig überschätzt.Seine historische und epistemologische Begrifflichkeit, insbesondere den Terminus der „Denksysteme“ sowie die Darstellung des Exils und des Kalten Krieges als Epochenumbrüche, gewinnt Müller aus den wissenschaftsgeschichtlichen Studien von Michel Foucault und Reinhart Koselleck. Deren Vokabular bleibt dem behandelten Material jedoch äußerlich, und die immensen Unterschiede zwischen Kritischer Theorie und Diskurstheorie werden an keiner Stelle problematisiert.Dass Müller die Frühgeschichte Kritischer Theorie als Geschichte der Verschaltung von Institutionen und deren spezifischen Arbeitsformen erzählt, führt überdies dazu, dass Marcuse, Neumann, Kirchheimer und andere immer wieder als „Gelehrten-Krieger“ oder „Kriegsgefährten“ figurieren, denen der Leser auf Geheimkonferenzen und in Militärbasen folgen darf wie in einem unter Akademikern angesiedelten James-Bond-Film. Die dabei durchscheinende Begeisterung des Autors vor allem für Marcuse als „Mann der Praxis“, der hinter den Kulissen der Weltöffentlichkeit große Politik macht, überdeckt eher, was herauszuarbeiten wichtig wäre: Dass nämlich der Anspruch der Kritischen Theorie, den drohenden Siegeszug von Faschismus und Totalitarismus „mit den Augen des Westens“ zu kritisieren, also eine Selbstkritik der westlichen Zivilisation im Namen von deren eigenen Idealen zu liefern, sich nicht allein in praktischer Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen erschöpfte, sondern ihre Theoriebildung bis in die Spätschriften Horkheimers und Adornos hinein beeinflusst hat.Die Theoriegeschichte bleibt der blinde Fleck der Studie, was zu zahlreichen Verzerrungen führt. Besonders ärgerlich ist, dass Müller die angeblich praxisfernen „Negativisten“ Adorno und Horkheimer wiederholt als Gegenbilder zur eingreifenden Praxis Marcuses herbeizitiert, ohne über den Widerspruch Rechenschaft abzulegen, dass Marcuse – mag er in seinem praktischen Handeln zu jener Zeit das Politikverständnis der Kritischen Theorie auch besonders prägnant vertreten haben – als Heideggerschüler geistesgeschichtlich in einer völlig anderen Tradition stand. Auch Marcuses weiten Teils ungebrochene Affirmation der neuen sozialen Bewegungen der sechziger Jahre, in der er besonders mit Horkheimer in schroffem Widerspruch stand, wäre in diesem Kontext zu sehen. So beeindruckend die von Müller ausgebreitete Materialfülle auch ist, eine politische Wissenschaftsgeschichte der Kritischen Theorie, in der Adorno und Horkheimer nur am Rande vorkommen, kann nicht vollends zufriedenstellen.