1989, als die Mauer fiel, war ich in Budapest, drehte für die ARD die Dokumentation Ein Fest für die Freiheit. Nach einem Interview mit Gyula Horn, dem Außenminister der staatssozialistischen Regierung über die Zukunft Ungarns, sagte dieser, als die Kamera ausgeschaltet war: "Viel größere Chancen als wir haben jetzt die Deutschen. Wenn das Beste aus beiden Ländern zusammengefügt wird, welch´ ein starkes, selbstbewusstes Land mitten in Europa werden wir dann erleben." Und dann fragte er mich: "Glauben Sie, dass das Beste aus beiden Ländern zusammengefügt werden wird?" Ich war verblüfft und stotterte, ich wollte es hoffen.
1990/91, als Deutschland ein Land wurde, war ich ARD-Korrespondentin in London. Ich erlebte Margaret Thatchers W
garet Thatchers Widerstand, den Feldzug der englischen Presse gegen "The Bundesbank" als Europas Geldfestung, den Spott der Kollegen "Na ja, dann gibt es also 300 deutsche Gold-Medaillen bei der Olympiade" und erfuhr damit im Grunde die gleiche Einschätzung wie zuvor von Gyula Horn: Da entsteht ein reiches, aus Ost und West sich stärkendes Land.1994, als ich die Chefredaktion Fernsehen beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt übernahm, fand ich enttäuschend wenig von den prognostizierten Chancen. Zwar geisterte eine Art Beschwörungsformel im Futurum durch die politische Diskussion, die hieß: "Auch der Westen wird sich verändern müssen". Aber von einer neuen Einheit war nichts zu bemerken. Im Gegenteil, es herrschte eine schreckliche Gleichgültigkeit im Westen der inneren Einheit gegenüber. Von wegen Zusammenfügen des Besten, was die beiden Länder ausmachte. Bestes hatte ja nur der Westen, der Osten nur Schlechtes. Die Menschen "dort" waren entweder Stasi-Täter oder SED-Opfer. Es gab keine Personen mit eigenen Lebensgeschichten, keine Ärzte, Künstler, Arbeiter, Angestellten, berufstätige Mütter, Wissenschaftler, Kindergärtnerinnen, Professoren, von denen wir im Westen irgendetwas hätten lernen können. Niemand. Es gab auch keine Strukturen, die wir uns - nach der Ent-Ideologisierung - näher anschauen wollten zwecks möglicher Übernahme: das Schulsystem nicht, das Gesundheitssystem nicht, die Kinderbetreuung nicht. Rein gar nichts. Und dann die politische Willensbildung. Wer nicht der CDU oder FDP beitrat, mit den Grünen fusionierte oder von der SPD gnädig aufgenommen wurde, war verfassungsverdächtig und polit-kriminell. Da wollte sich eine sozialistische Staatspartei reformieren, demokratisieren. Das war ja unerhört. Die Ungarn durften so etwas machen. Gyula Horn, der langjährige Kader-Sozialist und spätere reform-sozialistische Ministerpräsident, wurde hier zu Lande hofiert und geehrt, von Gorbatschow ganz zu schweigen. Aber im geeinten Deutschland war das völlig unmöglich. Die "SED-Nachfolge-Partei" war eine Verbrecher- und Mörderbande, Parias, Geldwäscher, Unpersonen. Sie galt es totzuschweigen, auszugrenzen wie in den Hochzeiten des "Kalten Krieges". Dabei wollten wir eine Gesellschaft sein, übersahen aber ganz bewusst, dass eine Gesellschaft nur durch politische Auseinandersetzung mit allen Ideen, Vorstellungen, Konzepten entsteht. Auseinandersetzung wohlgemerkt, nicht Akzeptanz per se, aber auch nicht Verunglimpfung und Denunziation. Und weil diese Auseinandersetzung unterblieb, wurden wir von Jahr zu Jahr weniger eine Gesellschaft, obwohl die Politiker diese Einheit stets beschworen. Der Westen war und blieb der Westen. Was der Osten wurde, war der Riesen-Koalition aus FDP/CDU/CSU/SPD und GRÜNEN ziemlich egal. Und der großen Medien-Allianz im Westen auch. Einziger Störfaktor war sowieso die PDS - und 2002 schien es mit ihr endlich vorbei. "Nicht mehr im Bundestag vertreten" hieß: nun konnte man noch besser totschweigen und ausgrenzen als zuvor. "Dass die PDS aus dem Bundestag geflogen ist, empfinde ich als ein schönes Geschenk", freute sich damals Angela Merkel. Es war ein Danaer-Geschenk. Denn nun, im 15. Jahr der Einheit, kommt der Bumerang zurück. Was als zerstörerische Kraft gegen den Osten im Westen eingesetzt wurde, die systematische Negation von allem, was links sein könnte von der Sozialdemokratie, wirkt auf einmal nicht mehr. Die Stimmung hat sich geändert. Die Angst-Parolen haben sich abgenutzt. Der Osten will endlich auch eine Rolle spielen, Bewegung in die trostlos-erstarrte Politik bringen, die sich nicht einmal die Frage stellt, was eigentlich mit diesem geeinten Vaterland in Zukunft geschehen soll, geschweige denn eine Antwort auf diese Frage hätte. Zwei Millionen Abwanderer, immer mehr Alte, Arme, Kranke - dieses Thema Osten will der Westen nur los werden. Aber wie? Darum geht es in diesem Wahlkampf - und erst recht in der Zeit danach.