Der Dokumentarfilm "Someone Beside You"

Kino Wenn ich die psychiatrischen Akten über mich anschaue, dann bin ich ein schwerst gestörter, kranker Mensch. Was die weitere Ausübung meines Berufes ...

Wenn ich die psychiatrischen Akten über mich anschaue, dann bin ich ein schwerst gestörter, kranker Mensch. Was die weitere Ausübung meines Berufes anbelangt, so ist sie mir untersagt. Begründet wird dies damit, dass ich an einer besonderen Form von Uneinsichtigkeit leide, die weder mit Medikamenten noch mit Supervision oder Therapie kuriert werden kann". Jakob Litschig, 55, beantwortet in einer Szene die Frage des Regisseurs nach seiner Krankheit freundlich, ruhig und gefasst. Was dem sympathischen älteren Mann mit runder Brille und Pferdeschwanz widerfahren ist, das erleben Jahr für Jahr Tausende von Menschen, wenn sie nach Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken als nicht mehr arbeitsfähig eingestuft und mit einer Invalidenrente abgespeist werden. Das Besondere bei Jakob Litschig ist, dass er selber Psychotherapeut und Psychiater war, eine eigene Praxis hatte, bis ihm vor zehn Jahren infolge unkonventionellen Verhaltens und eigener psychotischer Erkrankung die Zulassung entzogen wurde.

In der Eingangsszene von Someone Beside You zeigt sich ein Litschig, der alles andere ist als freundlich, ruhig und gefasst. Außer sich vor Wut brüllt er auf einer Wiese vor dem geparkten Wohnmobil seinen offensichtlich verwirrten Beifahrer an: "Ich toleriere das nicht, dass du aus meinem Auto heraus Leute anpflaumst, nimm das zur Kenntnis!" Es ist eine verstörende Szene, das Aggressionspotential ist hoch, einen Moment lang fürchtet man, die beiden Männer könnten aufeinander losgehen. Solch heftige, ungebremste Gefühlsäußerungen sieht man selten in einem Dokumentarfilm, sie sind ein Tabubruch.

Someone Beside You ist ein komplexes Dokument über die Abgründe des menschlichen Geistes, als Roadmovie angelegt, Spiegelungen und Aufnahmen aus Helikoptern tauchen als Leitmotive immer wieder auf. Dabei setzt sich Regisseur Edgar Hagen gelegentlich selbst ins Bild - selbstverständlich und unaufdringlich, und ohne dass dies negativ ins Gewicht fallen würde. Per Wohnmobil reist er in der Schweiz, in Italien, in Frankreich und in den USA mit den Psychiatern Jakob Litschig, Eric Chapin, Tilman Borghardt und Edward Podvoll. Sie alle teilen die Grundüberzeugung aus: "Wer einen Verstand hat, kann ihn auch verlieren". Damit stehen sie im Widerspruch zur herkömmlichen Psychiatrie mit ihrer Lehre von genetischen und organischen Prädispositionen, die den Ausbruch einer Psychose begünstigen oder gar determinieren. Und die behauptet, dass viele Psychosen nicht heilbar sind, sondern nur durch Medikation unter Kontrolle gehalten werden können.

Demgegenüber ging der Amerikaner Edward Podvoll (1936 - 2003) von der Heilbarkeit von Psychosen aus, definierte sie als einen Extremzustand des Geistes, aus dem man auch wieder herausfinden kann, wenn man den in jedem Menschen vorhandenen gesunden Kern aktiviert. Diese Haltung hat Podvoll in seiner 1981 gegründeten therapeutischen Gemeinschaft "Windhorse" in Boulder, Colorado, gelebt. Die Szenen mit Podvoll gehören denn auch zu den beeindruckendsten Momenten des Films. Der schon schwer von seiner Krankheit gezeichnete Mann strahlt eine Ruhe und Weisheit aus, die an einen Schamanen erinnern. Wenn er von jahrelangen Erfahrungen mit buddhistischen Meditationstechniken zur Lenkung des eigenen Geistes erzählt, hegt man daran keinen Zweifel.

Man kann sich auf jemanden einlassen, ohne auf dessen Inhalte einzugehen, sagen die Buddhisten. Edgar Hagen scheint diese Haltung verinnerlicht zu haben, schafft er es doch, Empathie und Distanz immer in einer Balance zu halten. So wird aus Someone Beside You ein beeindruckendes Lehrstück für den Umgang mit Menschen, die "anders" sind.

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