Der Humanismus ist tot. Es lebe der Humanismus! Für den französischen Wissenschaftsphilosophen Michel Serres werden die neuen Kommunikationstechnologien zu Wiedererweckern eines fächerübergreifenden Multikulturalismus. Was noch fehlt dazu? Der dritte Pädagoge. Michel Serres ist Mitglied der Académie Française, des französischen Geistesolymps, und Professor an der kalifornischen Stanford University, studierter Mathematiker, auf Du und Du mit den Klassikern der Antike und weltläufiger Philosoph. Es ist diese ungewöhnliche intellektuelle Melange, die ihn Altes und Neues kreativ zusammendenken lässt. Humanistische Ideale und Internet sind für ihn keine Gegensätze, sondern Partner: So war Serres auch einer der Vordenker für die erste französische Internet-Universität, die vor kurzem ins Netz ging. Und auch vor dem aus der Mode gekommenen Begriff des Multikulturalismus scheut er sich nicht. Der Freitag fragte Serres anlässlich eines Vortrags in Wien, wie das alles zusammenpassen soll.
Freitag: Durch die Revolution in der »Life Science«, den Lebenswissenschaften, scheint sich die Definitionsmacht darüber, was den Menschen ausmacht, in Richtung der Naturwissenschaften verschoben zu haben. Verlieren die Geisteswissenschaften ihr Deutungsmonopol?
Michel Serres: Die Frage lautet nach wie vor: Was ist der Mensch? Und das hat schon Kant gefragt - und vor ihm Montaigne und Sokrates. Jeder, der versucht hat, darauf eine Antwort zu geben, ist von der nächsten Generation verspottet worden. Denn jede Definition wirft die Frage nach den zugrundeliegenden Kriterien auf. Durch eine Definition will man sowohl eine Grenze einziehen wie auch ein Ziel bestimmen. Wenn sich der Mensch aber nicht definieren lässt, dann hat er auch keine festgelegte Bestimmung. Sprich: Er ist unendlich, wir haben keine Grenzen. Ich kenne keine Kuh, sei sie nun eine französische oder deutsche Kuh, die nicht Gras frisst. Der Mensch aber wählt aus. Er ist keine Realität, sondern eine Möglichkeit.
Gleichwohl sind die Geisteswissenschaften mehr und mehr in die Defensive geraten.
Die Bedingungen einer Erfindung, wie sie Wissenschaftshistoriker oder- soziologen beschreiben, sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen. Die notwendigen Bedingungen nämlich erklären niemals eine Entdeckung. Und wenn wir die hinreichenden Bedingungen kennen, sind wir keine Historiker mehr, sondern Erfinder. Das ist die grundlegende Demut der Geisteswissenschaften.
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften waren nicht immer voneinander getrennt.
Heute sah ich im Naturhistorischen Museum in Wien einen versteinerten Fisch, den ein österreichischer Naturforscher im 19. Jahrhundert gefunden hatte. Darunter prangten sechs Verse klassisches Latein aus der Aeneis. Ein deutschsprachiger Biologe, der zuallererst an Vergil denkt, wenn er etwas Neues entdeckt hat! Die humanistische Kultur ist seit mindestens zwanzig Jahren tot. Es ist heute unvorstellbar, dass ein Nobelpreisträger für Chemie Homer in der Originalsprache zitiert. Ich bin 70 Jahre alt, ich habe Latein und Griechisch gelernt und die antiken Autoren gelesen, aber auch eine naturwissenschaftliche Ausbildung absolviert. Diese Kombination gibt es heute nicht mehr. Die Idee des Allgemeinwissens ist verloren gegangen. Und niemand aus Ihrer Generation kann noch Griechisch oder Latein.
Frech geantwortet: Na und? Was würde denn dieses humanistische Wissen heute bringen? Reichen nicht die Naturwissenschaften?
Vergessen Sie nicht, dass der Humanismus ein Wissen ist, das je nach dem naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich sein kann - oder eigentlich: das beides umschließt. Wenn wir aber heute von »Humanismus« sprechen, dann folgen wir oft der verzerrten Sichtweise des 19. Jahrhunderts auf die Renaissance. Daher glauben wir, dass die Humanisten der Renaissance Spezialisten für Sprachen gewesen seien. Aber die humanistischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts wollten die naturwissenschaftlichen Texte der Antike verstehen, die eben auf Griechisch, Latein oder auch auf Arabisch vorlagen. Und wenn man etwas über Astronomie oder Geometrie erfahren wollte, musste man Ptolemäus oder Euklid auf Griechisch lesen. In der Naturgeschichte und Physik las man Plinius und Lukrez auf Latein. Erst im 19. Jahrhundert sind die humanistischen Wissenschaften und die Naturwissenschaften dann getrennt worden.
Und sie wollen die beiden wieder zusammenbringen?
Was ich kommen sehe, ist ein neuer Humanismus, der auf einem Multikulturalismus beruht. Der Humanismus des 16. Jahrhundert war ja noch in gewisser Weise partikularistisch, weil er auf den Mittelmeerraum begrenzt war. Der neue Multikulturalismus kann heutzutage diese innovative Rolle spielen, und zwar auf einer globalen Ebene. Ermöglicht wird dies durch die neuen Kommunikationstechnologien. Das Beste, was ich zum Beispiel zur letzten Präsidentenwahl in den USA gelesen habe, war ein Text eines Soziologen aus Zimbabwe, auf den ich im Internet gestoßen bin. Den hätte ich niemals in einem Buch oder in einer Zeitschrift gefunden. Wir müssen den Humanismus neu denken - als eine Allianz zwischen den neuen Technologien und dem Multikulturalismus.
Sind die Universitäten in den USA mit ihrer sehr gemischten Studentenschaft so ein Symbol für diesen Multikulturalismus?
Das ist auch an europäischen Unis nicht mehr anders. In einem Vorlesungssaal an der Sorbonne sitzen Studenten aus dem Maghreb, aus Sri Lanka und von den Philippinen auf einer Bank. Das trifft auch für London oder auch Berlin zu, wo es sehr viele Türken gibt. In Europa gibt es eigentlich viel mehr Multikulturalismus, denn unsere gemeinsame europäische Kultur reicht ja mindestens bis ins Mittelalter zurück. Wir haben alle Boltzmann und Freud gelesen. Wir kennen den Wiener Kreis, wir sind alle von Musil porträtiert worden. Wenn ich nach Wien komme, bin ich bei mir zuhause.
Das ist aber wieder die alte Welt. Lassen Sie uns noch mal in die Zukunft blicken: Wenn ich Sie recht verstehe, wird für Sie das Internet zum Geburtshelfer einer neuen Kultur?
Wir beginnen mehr und mehr, auch die Revolutionen der so genannten weichen Technologien zu verstehen. Die Einführung der Schrift und der Druckerpresse waren letztlich ja viel wichtiger als die industrielle Revolution. Staat, Religion, Recht, Handel und vieles mehr basieren auf der Schrift. Ich glaube, dass die Informationstechnologien von heute zu einer vergleichbaren Umwälzung führen werden.
Wo werden diese Umwälzungen sichtbar? Etwa an der Stanford University, wo Sie unterrichten? Und denken da auch die Geisteswissenschaftler um?
Glauben Sie bloß nicht, dass dies einen Einfluss auf die Geisteswissenschaften in Stanford hätte. Ich lehre dort seit 20 Jahren und habe meine Kollegen und deren Unterricht in keiner Weise von den neuen Technologien beeinflusst gesehen. Die sind recht konservativ. Stanford ist auch zu reich, um sich verändern zu müssen. Nicht die Reichen werden sich verändern, sondern die Armen. Die Reichen haben ja im Gegensatz zu den Armen kein Interesse daran, etwas zu verändern.
Werden die neuen Technologien die Kluft zwischen Reich und Arm vergrößern?
Das ist möglich. Man nennt dies den »numerischen Graben«. Aber ich glaube, man überschätzt das. Der momentane Graben ist viel größer. Da die neuen Technologien relativ billig sind, kann man sich das auch in Mosambik oder Madagaskar leisten. Vor fünfzig Jahren wollte die französische Regierung in Nordafrika den Schulunterricht obligatorisch machen, auch für die Nomaden, die noch Sklaven hatten. Die Nomaden waren Aristokraten, sie haben sich geweigert. Also sind nur die Sklaven in die Schule gegangen. Eine Generation später sind die ehemaligen Sklaven Mediziner, Anwälte und Professoren geworden, und die Adligen waren noch immer Ziegenhirten. Es ist also denkbar, dass die Erziehung dank der neuen Technologien den Menschen ganz neue Möglichkeiten bietet. Vielleicht entsteht so ein derartig intensiver Austausch mit der ganzen Welt, dass die Reichen letztlich ihren Standortvorteil verlieren.
Welche Rolle wird dabei den Universitäten zukommen?
Die Universität wird dazu verdammt sein, Intelligenz hervorzubringen und keine Gelehrsamkeit. Die neuen Technologien werden die Gelehrten dazu zwingen intelligent zu werden. Rabelais macht sich über den mittelalterlichen Gelehrten lustig. Und vielleicht werden die neuen Technologien die Universitäten von heute bald mittelalterlich erscheinen lassen.
Die Art des Unterrichts wird sich also ändern?
Sie wird sich grundlegend ändern. Stellen Sie sich vor, Sie sind Erziehungsminister in einem Land und wollen eine höhere Lehranstalt errichten. Sie müssen Gelände kaufen, Leitungen verlegen, Gebäude errichten usw. Dann rechnen Sie das zusammen und stellen fest, dass das sehr teuer kommt. Wenn Sie die selbe Institution mit den neuen Technologien betreiben, wird das hundertmal billiger. Angesichts der Krise im Ausbildungsbereich werden sich die neuen Technologien geradezu aufdrängen, in reichen wie in armen Ländern.
Das ist aber nur die äußere Form, wie sieht es mit den Inhalten der Lehre aus?
Ich stelle mir eine neue Art von Lehrer vor, den ich den dritten Pädagogen nenne. Das ist jemand, der seinen Studenten jenes Gemeinwissen vermitteln kann, diesen neuen Humanismus, der auch die neuen Technologien mit einschließt. Eine Gesellschaft, die nur in den Naturwissenschaften beschlagen wäre, aber die Geisteswissenschaften nicht beachtet oder umgekehrt - das wäre gefährlich für die Welt. Wir brauchen heutzutage Lösungen, die auf wissenschaftlicher Basis beruhen, die aber nicht von jemandem gefunden werden können, der von den humanistischen Wissenschaften völlig abgelöst ist.
Gibt es diesen dritten Pädagogen bereits?
(blickt nach oben). Ohne ein bisschen Utopie kann man keine gute Philosophie betreiben. Diesen dritten Pädagogen gilt es erst noch auszubilden. Auch die Geschichte oder die Soziologie können nicht ohne Humanität bleiben. Ein noch so gelehrter Soziologe versteht nichts von den Individuen, die er studiert, wenn er nicht Balzac gelesen hat. Die Literatur und die Künste verleihen dem Menschen seine Individualität. Nicht nur die Natur-, sondern auch die Geisteswissenschaften bedürfen des dritten Pädagogen. Je älter ich werde, desto unverzichtbarer finde ich diese Kultur. Ohne die Künste können wir uns nicht befreien. Wenn man nie Musik gemacht hat, nie Arnold Schönberg gehört, nie Robert Musil gelesen, dann kann man sich auch mit der besten Soziologie nicht behelfen. Man ist dann ohne Bestimmung.
Und was ist mit den Jugendlichen, die lieber Techno oder Hiphop hören?
Gott beschützt sie (lacht). Ohne den permanenten Austausch zwischen den Kulturen verbleibt man im vollständigen Elend des Nichtwissens. Ich weiß nicht, ob die neuen Technologien den Multikulturalismus oder den Humanismus retten werden. Aber ich bin mir sicher, dass wir ohne Kultur und ohne den Humanismus sicher nicht zu retten sein werden.
Das Gespräch führte Oliver Hochadel.
Neuerscheinung: Nayla Farouki und Michel Serres (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften. Deutsch von Michael und Ulrike Bischoff. Zweitausendeins Verlag, Frankfurt am Main 2001, 1176 S., 99,- DM
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