Der Druck im Kessel steigt

Im Gespräch Fawas Abu Sitta, Professor an der Al-Ashar-Universität in Gaza, über israelische Zeppeline, palästinensische Raketen und innere Zerreißproben

FREITAG: Fühlen sich die Menschen im Gaza-Streifen nach der Machtübernahme von Hamas freier oder haben wir es mit einem diktatorischen Regime nach islamischer Art zu tun?
FAWAS ABU SITTA: Weder Hamas noch Fatah können den Palästinensern die ersehnte Freiheit gewähren, da - unabhängig davon, wer von beiden regiert - die Besatzungsmacht Israel die Grenzen der Freiheit bestimmt. Es gibt zwar Bewegungsfreiheit innerhalb des geschlossenen Raums Gaza-Streifen, doch muss man bedenken, diese Freiheit wird durch Angriffe der israelischen Armee aus der Luft, von See oder von Land gefährdet und beeinträchtigt. Israelische Zeppeline, die den Streifen überfliegen, kontrollieren jede Bewegung, so dass jeder angegriffen und bedroht werden kann.

Andererseits erfahren wir täglich, dass Attacken mit Qassam-Raketen auf israelische Orte fortgesetzt werden. Hat Israel kein Recht auf Selbstverteidigung?
Dieser Beschuss israelischer Orte ist unter den Palästinensern umstritten. Die Meinungen über die Effizienz solcher Attacken gehen weit auseinander, weil sie Israel einen Vorwand für massive Angriffe und Kollektivstrafen liefern. Dabei reagiert die israelische Armee schon auf geringfügige Schäden in unbewohnten Gebieten mit extremer Härte und völlig unverhältnismäßig. Wäre das nicht der Fall, würde vermutlich die Raketendebatte unter den Palästinensern anders laufen.

Es gibt unterschiedliche Positionen zur Gewalt.
Ja, eine Mehrheit der Palästinenser ist der Meinung, dass die Nachteile des bewaffneten Widerstands unter den gegebenen Bedingungen größer sind als die Vorteile. Obwohl die Palästinenser das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung haben, da Israel sich nach wie vor weigert, die UN-Resolutionen zu akzeptieren, die einen Rückzug aus den besetzten Gebieten fordern.

Die Mehrheit glaubt, dass die Vorteile des gewaltloses Widerstands überwiegen, auch wenn die meisten die Hoffnung verloren haben, dass Israel eine friedliche Lösung sucht, die Besiedlungspolitik aufgibt, die 1967 besetzten Gebiete räumt und einem palästinensischen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt zustimmt. Man sehnt sich nach einer solchen Lösung, erwartet aber nicht, dass es sie gibt.

Sie haben als Bürger von Gaza selbst erlebt, wie Hamas im Mai 2007 die alleinige Macht übernahm. Wie haben Sie das empfunden?
Diese Entwicklung ist natürlich für jeden bedauerlich, der sich für die palästinensische Einheit einsetzt. Das Scheitern des Friedensprozesses mit Israel hat die Polarisierung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verschärft. Es kann so auf keinen Fall weiter gehen. Wir müssen zur Einheit zurück, da das palästinensische Volk sonst auch minimale Forderungen nicht durchsetzen kann. Dass momentan jeder Versuch einer Wiederannäherung zwischen Hamas und Fatah erfolglos bleibt, ist aber nicht nur mit den unterschiedlichen Positionen beider Seiten zu erklären, sondern ebenso der Politik der USA und Israels zu verdanken.

Weshalb kam es am 11. November 2007, als sich in Gaza-Stadt Hunderttausende zum 3. Todestag von Yassir Arafat versammelten, zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Anhängern von Fatah und Hamas?
Das war ein politisches Indiz dafür, dass eine Mehrheit der Palästinenser mit dem Gang der Dinge nicht einverstanden ist. Die Veranstalter rechneten an diesem Tag mit einigen tausend PLO-Anhängern - es kamen fast 250.000. Nach meinem Eindruck ging es nicht allein darum, Arafat zu würdigen, sondern vielmehr die bestehenden Verhältnisse und die Machtübernahme durch Hamas abzulehnen. Es erschien mir wie eine spontane Reaktion, die spüren ließ - der Gaza-Streifen kann jeden Moment explodieren.

Zweifellos verschärft die israelische Blockade den innerpalästinensischen Zwist. Gibt es denn keine privaten Initiativen, dem zu begegnen?
Es gibt ein Nationales Komitees zur Aufhebung der Blockade, das in dieser Hinsicht aktiv wird und sagt: Die Tatsache, dass Hamas die Macht übernahm, gibt keinem das Recht, 1,5 Millionen Menschen mit einer Kollektivstrafe zu belegen. Das widerspricht dem Völkerrecht und den Genfer Konventionen. Wir hoffen, dass diese Initiative die Solidarität mit dem palästinensischen Volk forciert, damit die Weltgemeinschaft Israel drängt, die Blockade zu beseitigen. Wir sagen der Weltöffentlichkeit zugleich: Der palästinensisch-palästinensische Konflikt ist eine interne Angelegenheit. Ihn beizulegen, muss den Palästinensern überlassen bleiben. Dieser Konflikt darf nicht von anderen benutzt werden, um das palästinensische Volk auf die Knie zu zwingen.

Das Gespräch führte Hakam Abdel-Hadi

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