USA/Irak Der einstige UN-Inspektor Scott Ritter ist davon überzeugt, dass Saddam Hussein über keine nennenswerten Arsenale an Massenvernichtungswaffen mehr verfügt
Der Raum 295 der Juristischen Fakultät in der Innenstadt von Boston ist an diesem Augustabend überfüllt mit Friedensaktivisten, alternden Hippies und Umweltschützern. Eine Gruppe verteilt grüne Flugblätter, auf denen zu lesen ist: "Wir werden einen Krieg gegen den Irak nicht unterstützen. Welche Gründe und welche Rhetorik uns auch immer von Politikern und Medien angeboten werden - ein Krieg in unserer Zeit kennt keine Unterschiede. Es wird ein Krieg gegen Unschuldige und Kinder sein." Dieser Aufruf trifft die Stimmung der Teilnehmer, dann aber geschieht, was zunächst kaum jemand im Auditorium für möglich hält. Im Saal erscheint jemand, der so gar nicht in diese Szene zu passen scheint. Der Mann strebt entschlossen dem Podium entge
tgegen, spricht mit dem resoluten Schneid eines Football-Trainers, fast wie eine Bulldogge. Würde er eine Trillerpfeife um den Hals tragen, wäre das Bild perfekt, das dieser stämmige Typ abgibt. Scott Ritter ist vom Scheitel bis zur Sohle Veteran der Marines mit zwölfjähriger Diensterfahrung, davon geraume Zeit als Waffeninspektor der Vereinten Nationen im Irak. Er lässt gleich zu Beginn seines Vortrags keinen Zweifel, worum es ihm nicht geht: "Ich bin Mitglied der Republikanischen Partei und moderat konservativ. Ich habe für George Bush gestimmt. Ich trete mit keiner politischen Agenda an. Ich bin nicht hier, um die Republikaner nieder zu machen ... "Wenn 20.000 Marines im Oktober aufmarschiert sind ... Ohne politische Agenda? Wie sich nicht überhören lässt, ist Ritter doch mit einer politischen Botschaft in Boston, die jeden Amerikaner etwas angeht. Er ist erschienen, um den kommenden Krieg der USA gegen den Irak zu verdammen, mit bebender Stimme und brennenden Augen. Bei einem solchen Waffengang, ist Ritter überzeugt, gehe es allein und ausschließlich um amerikanische Innenpolitik. Da werde mit Spekulationen jongliert, die mit Fakten nichts mehr zu tun hätten. "Das III. Expeditionskorps der Marines in Kalifornien bereitet die Verlegung von 20.000 Soldaten in die Region vor, so dass Bodenoperationen ab Mitte Oktober möglich sind. Die Luftwaffe hat einen großen Teil ihrer ferngelenkten Munition in Afghanistan verbraucht, daher lässt der Kongress gerade Mittel bereitstellen, damit Boeing die Produktion von Waffenlenksystemen beschleunigt. Liefertermin: 30. September 2002. Und warum das Ganze? Weil die Luftwaffe den Befehl hat, drei Expeditionseinheiten bis Mitte Oktober für einen Kampfeinsatz im Irak bereitzustellen." Ritter, der während des Golfkrieges von 1991 unter General Schwartzkopf gedient hat, fügt hinzu: "Als Veteran weiß ich, dass immer dann, wenn soviel Potenzial an einem Ort disloziert wird, es ausgesprochen schwer ist, dieses Arsenal wieder zurückzuziehen. Wenn also 20.000 Marines im Oktober aufmarschiert sind, dann können Sie auch im Oktober einen Krieg erwarten." Ritter will auf jeden Fall vor dem Außenpolitischen Ausschuss des Senats als Sachverständiger aussagen. Man müsse dort erklären, dass weder die nationale Sicherheit, noch internationales Recht, schon gar nicht moralische Werte einen solchen Krieg rechtfertigen könnten. Auf eine Frage aus dem Auditorium, was die Kriegsplanung für Oktober mit den im November anberaumten Kongresswahlen zu tun habe, sagt Ritter: "Alles! Die Sicherheit der USA wird von einer Handvoll Neokonservativer missbraucht, die ihre Ämter für egoistische Ziele nutzen. Wenn wir das nicht begreifen, haben wir alle zusammen als Nation versagt."98 Raketen, von denen die Iraker behauptet hatten ... Scott Ritter - sieben Jahre als Waffeninspekteur der UNSCOM (*) im Irak - ist davon überzeugt, dass Saddam Hussein über keine nennenswerten Massenvernichtungswaffen mehr verfügt. Um das Publikum zu überzeugen, erzählt er in knappen Zügen die Geschichte der Waffenkontrolle im Irak. "Anfang der neunziger Jahre gab es diese Arsenale tatsächlich. Die Iraker haben damals permanent gelogen, weder die Programme für biologische und Kernwaffen zugegeben, noch chemische Kampfstoffe offen deklariert." - Ritter und sein Team recherchieren daraufhin sieben Jahre lang akribisch jede Bombe, jede Rakete, jede Waffenfabrik, jedes Depot. Sie fliegen nach Europa und finden die Produzenten und Verkäufer des im Irak aufgespürten Materials. Sie sehen Rechnungen, rekonstruieren Transportrouten und vergleichen die Daten mit ihren Recherchen im Irak. Sie suchen in den Ruinen von Gebäuden, die seinerzeit im Golfkrieg zerstört wurden, nach Laborgeräten sowie anderem Equipment und zerstören, was sie finden. Recht bald begreifen die Iraker, Ritter und seiner Crew entgeht kaum etwas. Konfrontiert mit der steten Gefahr militärischer Vergeltung ringen sie sich schließlich zur Taktik der totalen Offenheit durch. Ritter bleibt misstrauisch und versucht weiter, letzte Details zu verifizieren. Er beendet 1998 seine Mission in der Überzeugung, die Inspektionen haben 90 bis 95 Prozent aller Massenvernichtungswaffen des Irak identifiziert und vernichtet. Zum Beweis erzählt der Ex-Marine in Boston die Geschichte von den 98 Raketen, von denen die Iraker behauptet hatten, die seien längst entsorgt. Da aber die UNSCOM-Inspektoren Dokumente über eben jene Raketen besitzen, verlangen sie Belege für deren Zerstörung. Daraufhin werden Ritter und sein Team zu einem Gelände gebracht, auf dem sie wirklich erodierte Raketenreste finden. Nachdem man die vergrabenen Teile dank der jeweiligen Seriennummern identifiziert hat, wird in Russland, dem Herkunftsland der Waffen, ermittelt. Wieder die eingespielte Prozedur: alle verfügbaren Daten miteinander vergleichen - Seriennummern, Herstellungsdaten, Rechnungen, Frachtbriefe - am Ende sind 96 Raketen lückenlos erfasst. In den vergangenen Jahren hätte dort vieles reaktiviert werden können ... Ritter glaubt, die Episode sei in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Die amerikanische Öffentlichkeit, für die prinzipiell feststehe, dass die Iraker verschleiern und lügen, hätte natürlich nie erfahren, dass er ein Gelände observieren konnte, auf dem ohne Aufforderung durch die USA Raketen zerstört wurden. Insofern sollte eine Neutralisierungsquote von mindestens 90 Prozent als durchaus beeindruckendes Zeugnis für den Erfolg der UN-Inspektionen gelten. Ritter pariert das gängige Argument, es gäbe immer noch gewaltige Bestände an chemischen Waffen. Nein, die Tatsachen sprächen dagegen. Die Nervengase Sarin und Tabou zersetzten sich nach etwa fünf Jahren. Selbst wenn es den Irakern gelungen sein sollte, diese Arsenale zu verbergen, sie wären inzwischen wirkungslos. Anders verhalte es sich beim Nervengas VX - das sei zwar von längerer Lebensdauer, aber aufwändiger herzustellen. Allerdings orteten die Inspektoren eine VX-Produktionsanlage, deren Existenz der Irak stets bestritten hatte, als total zerstört - getroffen von einer US-Bombe am 23. Januar 1991. "Die Produkte dieser Fabrik sind zerstört. Die bereits produzierten Waffen sind zerstört. Und noch wichtiger, all die Anlagen, die einmal aus Europa geliefert wurden, um eine Fabrikation von Nervengas aufzubauen, sind komplett eliminiert. Es gibt heute keinerlei Kapazitäten für VX mehr." Ritters Fazit: Er selbst und sein Team seien seit 1998 nicht mehr im Irak gewesen. In den vergangenen Jahren hätte dort vieles reaktiviert werden können, wäre man unbehelligt geblieben, aber dieses Land sei per Satellit und US-Flugzeuge so intensiv wie kein anderes beobachtet worden. Wenn es ab 1999 Waffenproduktionen gegeben hätte, die den UN-Resolutionen widersprächen, lägen dafür eindeutige Beweise vor. Und wenn es so wäre, würden sie von George Bush selbstverständlich präsentiert. Aber es gäbe sie eben nicht.Übersetzung: Hans Thie(*) UNSCOM - United Nations Special Commission, wurde nach dem Ende des Golfkrieges Anfang 1991 von den Vereinten Nationen für Waffeninspektionen im Irak geschaffen.
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