Der Erfolg der Tafeln ist paradox

Im Gespräch Der Hochschulprofessor Stefan Selke kritisiert die zunehmende Verbreitung von Lebensmitteltafeln. Sie sollten stärker politischen Druck ausüben

FREITAG: Herr Selke, Sie haben für die Recherche Ihres Buchs ein Jahr lang bei einer Lebensmitteltafel im süddeutschen Raum mitgearbeitet. Hat sich Ihre Sicht auf die Tafeln dadurch verändert?
STEFAN SELKE: Wie die meisten Helfer habe ich meine ehrenamtliche Arbeit mit Begeisterung begonnen. Die Grundidee der Tafeln ist auch toll. Sie besticht durch ihre Einfachheit - armen Menschen zu helfen, indem man den Überfluss umverteilt, den unser Wirtschaftssystem produziert. Allerdings sind mir nach und nach immer mehr Paradoxien und Probleme im Tafelwesen aufgefallen.

Warum benutzen Sie für die Tafeln als sozialen Ort den Begriff "fast ganz unten"?
Die Menschen, die dorthin kommen, stehen nicht völlig außerhalb der Gesellschaft. Es sind keine Außenseiter wie etwa Obdachlose oder Drogenabhängige, die man professionell geschultem Personal überlässt, weil ehrenamtliche Helfer damit überfordert wären. Der Erfolg von Tafeln beruht auch darauf, dass Helfer und Nutzer des Angebots sich sozial relativ nahe sind. Ein Supermarkt-Leiter sagte mir: "Ich helfe hier, weil ich ganz schnell selbst in diese Lage kommen kann." So denken viele Ehrenamtliche. Die Tafel ist auch der Ort, an dem die Mittelschicht ihren Abstiegsängsten begegnet.

Was hat Sie bei Ihrer Recherche am meisten überrascht?
Verblüfft hat mich vor allem, wie eingespielt die Abläufe mittlerweile sind. Es ist ein enges, symbiotisches Verhältnis zwischen Helfern, bedürftigen Menschen und Spendern entstanden. Die Supermärkte sparen, weil sie die Entsorgung alter Ware nichts kostet und sie die Spenden steuerlich absetzen können. Die Helfer sind oft Rentner, die durch ihr ehrenamtliches Engagement eine neue Aufgabe und soziale Anbindung finden. Und die Tafelnutzer profitieren, weil sie Lebensmittel günstig oder kostenlos bekommen.

Also eigentlich alles prima?
Nicht ganz. Problematisch ist unter anderem, dass Tafeln versuchen, eine Normalität vorzugaukeln, die so nicht existiert. Ein Beispiel: Weil man das Wort "Bedürftige" vermeiden will, sprechen die Tafelmitarbeiter oft von ihren "Kunden". Kunde zu sein, bedeutet aber, bestimmte Rechte zu haben. Als Kunde kann ich im Supermarkt einkaufen, wann ich will. Viele Tafeln haben nur ein oder zwei Ausgabetage pro Woche. Als Kunde kann ich auswählen, was und wie viel ich kaufen will. Bei der Tafel muss ich nehmen, was an den Tagen vorher gespendet wurde. "Kunde" ist hier ein Euphemismus, der zu einer gefährlichen Verharmlosung führt.

Tafeln bestimmen heute unsere Wahrnehmung von Armut, so eine These Ihres Buchs. Was meinen Sie damit?
Wenn ich ein System erschaffe, mit Armut umzugehen, muss ich auch definieren, wer als arm zu gelten hat. Diese Feststellung von Bedürftigkeit ist ein zentrales Element von Tafeln. Nur wer als bedürftig anerkannt wird, darf zur Tafel gehen. Historisch lässt sich gut zeigen, wie sich durch Armutsbekämpfung bestimmte Bilder von legitimer Armut verfestigen. Tafeln machen genau dies, sie erzeugen eine legitime Form der Sichtbarkeit von Armut. In der Gesellschaft wird Armut damit zunehmend nur als "tafeladäquate Armut" wahrgenommen und akzeptiert. Die Schlange vor dem Tafelladen wird so zum Synonym für Bedürftigkeit. Andere Formen von Armut sind dann entweder nicht sichtbar oder gesellschaftlich nicht akzeptiert. Armut ist als Phänomen aber viel zu komplex, als dass man es nur auf die Schlange vor der Tafel reduzieren könnte.

Die zunehmende Verbreitung von Tafeln sehen Sie sehr kritisch.
In Deutschland wurde die erste Tafel 1993 in Berlin gegründet. Heute gibt es etwa 800 Tafeln, bei denen sich zirka 35.000 Menschen ehrenamtlich engagieren. Nach Schätzungen wird etwa eine Million Menschen regelmäßig mit Lebensmitteln versorgt. Das Ganze hat allein durch seine Dimensionen eine Selbstverständlichkeit bekommen, die nicht mehr hinterfragt wird. Bisher hatten wir noch keine gesellschaftliche Diskussion, ob das der richtige Weg ist, mit Armut umzugehen.

Sie beschreiben, dass Tafeln wie richtige Unternehmen stolz auf ihren Erfolg sind, stolz auf möglichst viele "Kunden".
Wie alle Organisationen, die eine gewisse Größe erreichen, entwickeln auch Tafeln die Tendenz, weitere Aufgaben an sich zu ziehen. Sie differenzieren sich aus, schaffen neue Angebote wie Kinder-Tafeln, Tier-Tafeln, Möbelhäuser und Yoga-Kurse. Damit schaffen sie neue Märkte der Bedürftigkeit. Diese Ausweitung ist gefährlich, weil sie zu einer Parallelwelt führt. Irgendwann gibt es alles auch zweite Klasse: Supermärkte, Restaurants, Kindergärten. Statt arme Menschen stärker in die Gesellschaft zu integrieren, wird auf diese Weise soziale Ausgrenzung vorangetrieben.

Warum treten die Tafeln so betont unpolitisch auf?
Die Grundargumentation ist immer: Wir sind nicht politisch, weil es unsere Aufgabe ist, pragmatisch zu helfen - und allein durch unseren Erfolg weisen wir immer wieder darauf hin, dass Armut ein Problem ist. Ich finde, dass reicht aber heute bei weitem nicht mehr aus. Weil das System der Tafeln so verbreitet ist, sollten sie stärker Druck ausüben und sich nicht nur eine Schirmherrin wie die Familienministerin Ursula von der Leyen suchen, die dann auf Fotos für die Armen lächelt.

Das eigentliche Ziel der Tafeln müsste ihre Selbstabschaffung sein, so Ihre Forderung. Ist das nicht unrealistisch?
Das klingt erstmal so. Dennoch sollte dieses Ziel in der Logik der Tafeln angelegt sein. Sie sollten nicht der Logik folgen, immer besser werden zu wollen und wie ein Franchise-Unternehmen immer mehr Ableger zu bilden. Die Verbandsvertreter machen einen Fehler, wenn sich nur auf ein möglichst gutes Management der Armut konzentrieren. Eine politische Alternative könnte etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen sein, das Menschen befähigt, wirklich als Kunden aufzutreten. Vorstellbar wäre auch, dass sich eine soziale Bewegung der Tafelnutzer formiert. Wenn man die Stimmen dieser Menschen bündelt, könnten sie politisch gehört werden, gerade auch bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr. Ziel muss die Armutsbekämpfung sein, nicht nur die Armutsbewältigung. Es kann keine Lösung sein, einfach immer nur mehr Tafeln aufzumachen.

Das Gespräch führte Jan Pfaff

Stefan Selke ist Professor für Soziologie an der Hochschule Furtwangen University. Kürzlich erschien sein Buch Fast ganz unten. Wie man mit Hilfe von Lebensmitteltafeln in Deutschland satt wird.

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