Sehr viel schlimmer kann es nicht mehr werden: Sitte, Moral und Anstand befinden sich im freien Fall, die Jugend ist faul und kaum jemand geht noch in die Kirche, so lautet ein zeitloses Verdikt über die geistige Situation unserer Zeit. Den intellektuellen Überbau zu dieser These liefert nun Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio. In seinem neuen Buch Die Kultur der Freiheit deckt er auf, was an "Sinngehalten menschlicher Existenz" verschüttet und an den Rand gedrängt wurde: Intimität, Familie und Kinder, Leistung und Religiosität. Kurz: "beste bürgerliche Ziele und Werte". Herbei gesehnt wird, was muffiger nicht klingen könnte: ein "preußisch-asketisches Staatsverständnis", "der romantische Biedermeier" und die fälschlicherweise zu "du
ise zu "dumpfer Kleinbürgerei gestempelten" goldenen fünfziger Jahre. Der Mann hat Mut.Di Fabio schürft zunächst wissenschaftlich nach den Goldkörnern des deutschen Kulturraums. Der Bonner Jura-Professor, der 1999 auf Vorschlag von CDU und CSU zum Nachfolger von Paul Kirchhof ans Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe berufen wurde, hält ein flammendes Plädoyer für einen Westen, der mit mehr Selbstbewusstsein zu seinen Errungenschaften stehen und die Unterschiede zu anderen Kulturen deutlich machen muss.Man müsse Freiheit und Gleichheit zwar nicht gleich zu universellen Werten erklären, trotzdem dürfe Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden, schreibt er mit Blick auf unseren Umgang mit dem Islam. Eigene Werte zu verteidigen, das gehöre schließlich zu einer "vitalen Kultur". Gleichzeitig erteilt er einem überdehnten Menschenrechtsbegriff eine deutliche Absage: Genüsslich deckt der Spitzenjurist auf, dass nicht alles, was politisch gerade en vogue ist, auch gleich die Menschenrechte verletzt, wie die vom UN-Menschenrechtsausschuss als "Besorgnis erregend" eingestufte Unterrepräsentanz von Frauen im deutschen öffentlichen Dienst.Was im Großen geschmäht werde, müsse im Kleinen geändert werden. Die Zeit sei reif für ein "neues bürgerliches Zeitalter", oder anders gesagt für den Lebensentwurf, den di Fabio selbst lebt. Mehr Leistungsträger brauche das Land, solche, die wie er mit Mitte zwanzig ihr Abitur nachholen, in Soziologie und Jura promovieren und Richter am höchsten Gericht der Republik werden. Ein Leben in vollendeter Form sei "nur mit Kindern" möglich, weiß der vierfache Vater. Man müsse begreifen, dass dadurch ein Beitrag für alle und gleichzeitig für einen selbst geleistet werde - eine Verschmelzung von "Logos und Eros". Der bekannteste Bundesverfassungsrichter, der unter anderem an der Entscheidung über die vorgezogene Bundestagswahl 2005 maßgeblich beteiligt war, lässt tief blicken: Intimität, Familie und Kinder gehören für ihn zu der "prickelnden Lebenserfahrung", an der es der heutigen Zeit immer mehr zu mangeln scheint. Hier lebt einer vor, wie er es für richtig hält und spricht auch darüber.Ein Kernstück seines Traktats ist die Abrechnung mit denen, die - so di Fabio - bürgerliche Werte verschüttet, Institutionen, Nationalsymbole und Autoritäten verlacht, sowie das Modell der Familie mit Kindern als "patriarchalische Zwangsveranstaltung" nachhaltig diskreditiert haben. Wie konnte es anders kommen: Die 68er sind schuld am "Paradigma der herrschenden Kultur des Westens", obwohl gegen die Beatles, Andy Warhol und Hermann Hesse natürlich nichts zu sagen sei.Doch die Vorwürfe klingen schief: sind Beziehungen und Familie wirklich so verpönt? Kaum ein Single ist heute gerne allein, geheiratet wird nach wie vor, und Kontaktbörsen schießen wie Pilze aus dem Boden. Lediglich die erotische Erfüllung ist ohne Ehe zu bekommen, oder, um mit di Fabios Worten zu sprechen, muss heute den Logos nicht nehmen, wer nur den Eros haben will. Die 68er verantwortlich für niedrige Geburtenraten? Christlich geprägte Länder wie Polen und Spanien sind nicht kinderfreundlicher, das laizistische Frankreich dagegen schon eher und der Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg - alles andere als eine Hochburg des fabioschen Bürgertums - ist laut Geburtenstatistik der fruchtbarste Schoß Europas.So kritiklos wie di Fabio das "Bürgertum" sieht, scheinen die 68er in ihrem Unterfangen, der Aufarbeitung der Naziherrschaft, nicht radikal genug gewesen zu sein. Waren es nicht Bürgerliche wie der KZ-Arzt Mengele, die tagsüber Verbrecher und abends ganz normale Väter waren, vom sonntäglichen Kirchenbesuch ganz zu schweigen? Di Fabio überschlägt sich fast vor Wut auf Hitler, diesen "brutal-charismatischen Komödianten, menschenverachtenden Hochstapler, rohen Lügner und unkultiviert begabten, größenwahnsinnigen Dilettanten" für dieses unauslöschliche Brandmal auf der Haut des deutschen Bürgertums - und setzt zu einer peinlichen Läuterungsaktion an.Den historischen Fakten noch ganz treu, biegt di Fabio in der Interpretation dann aber scharf rechts ab. Um das geknickte deutsche Nationalbewusstsein aufzurichten, verfällt er auf eine ebenso waghalsige wie abwegige Konstruktion: er spricht sowohl Hitler als auch den Deutschen für die Zeit der Nazi-Diktatur kurzerhand ihr Deutschsein ab. Hitler: kein Deutscher, allenfalls ein "verkleideter", da ihm unter anderem das "Anstandsgefühl des preußischen Staatsdieners" sowie die "Lebensfreude des bayerischen Katholizismus" - was auch immer das sein mag - fehlten. Der Protodeutsche: "verführt" und "geblendet", wie ein dummes kleines Kind, das doch nur von Volkswagen, Arbeit und Urlaub träumte.Das klingt so, als ob Verantwortung, wenn sie sich schon nicht personell trennen lässt, zumindest kulturell rein gewaschen werden könnte, da nicht deutsch sein kann, was nicht deutsch sein darf. Wer sich das Hemd schmutzig macht, soll sich einfach ein frisches anziehen können. Di Fabio scheint nicht zu merken, dass der Vorwurf an das Bürgertum in der Nazizeit gerade auf einen Punkt zielt, den er als Anlass für sein Verkleidungsspiel nimmt; dass nämlich vielen Deutschen ihr Gärtchen, die Arbeit und die KdF-Reisen so wichtig waren, dass sie es wortlos hinnahmen, als ihre jüdischen Nachbarn aus den Häusern getrieben wurden. Christliche Wurzeln, Renaissance-Humanismus, Aufklärung und "preußischer" Anstand versagten vor der Gefälligkeitsdiktatur Hitlers, darüber mag mancher verbittert sein, aber eine kulturelle Identität mit doppeltem Boden gibt es nicht, und wenn es sie gäbe, ließe sie sich nicht von Schuld und Verantwortung trennen. Welchen Unterschied macht es also, ob der Bruch in der modernen Zivilisation nun deutsch war - respektive "typisch" -, oder nicht? Die Suche nach einem kulturellen Notausgang aus der deutschen Geschichtsverantwortung ist vor allem eines: überflüssig.Kultur der Freiheit ist ein mit Verve und Herzblut geschriebenes persönliches Glaubensbekenntnis, aber keine Streitschrift, die Andersdenkende überzeugen will. Anspruchsvoll formuliert und kompromisslos positioniert wird die kulturelle Selbstgefährdung des Westens analysiert. Das fähnchenschwenkend propagierte, angeblich neue bürgerliche Lebensmodell und Familienbild ist nichts weiter als alter Wein in alten Schläuchen. Unverzeihlich sind die hilflos konstruierten Einlassungen zur Identität der Deutschen und der ergebnisorientierte Versuch, Kulturgeschichte apodiktisch in die Richtung des gewünschten bürgerlichen Idealmodells zu biegen.Die Rigidität der Gedankenführung sowie der verengte Bürgerbegriff verwundern bei einem breit gebildeten Intellektuellen wie di Fabio. Der als politischer Eklektizist geltende Enkel italienischer Einwanderer findet zwar "Leugnung und Relativierung durch Nationalkonservative aussichtslos und moralisch abstoßend", doch als Schüler des konservativen Systemtheoretikers Niklas Luhmann stellt sich der einflussreiche Richter auch gerne an die Spitze einer bürgerlichen Kulturrevolution. Mag ruhig das Pendel der Geschichte zurückschwingen und Habermas wieder zu einem "dem Marxismus nahe stehenden Kritiker des Spätkapitalismus" werden. Muss man deshalb gleich in die Zeit vor dem Historikerstreit zurückfallen?Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit. Der Westen gerät in Gefahr, weil eine falsche Idee der Freiheit die Alltagsvernunft zerstört. C.H.Beck, München 2005, 295 S.,19,90 EUR
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