Kaum ist die Tinte unter der Vereinbarung vom 21. Februar zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und der Opposition getrocknet, da sitzt Radosław Sikorski bereits in einem Warschauer Fernsehstudio. Soeben hat der Außenminister mit seinen deutschen und französischen Amtskollegen in Kiew vermittelt. Die Zuschauer hören ein dezentes Selbstlob des 51-Jährigen und mahnende Worte, gerichtet an Janukowytsch. „Wir werden sehen, ob sich der Präsident an den Vertrag hält, er hat zuletzt häufig Vereinbarungen gebrochen.“
Keine 24 Stunden später ist das Abkommen tatsächlich Makulatur. Aber nicht Janukowytsch und seine Entourage haben sich darüber hinweggesetzt, sondern deren Gegner, angetrieben von den rechten Kr
rechten Kräften. Dazu hört man von Sikorski kein Wort der Kritik. Aber das schadet ihm nicht. Im Gegenteil, er gewinnt dank der Ukraine-Krise an Kontur und wird inzwischen als Nachfolger der blassen EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton gehandelt. Für dieses Mandat sei Sikorski der „natürliche Kandidat“, ist Premier Donald Tusk überzeugt. Der Anwärter selbst hält sich bedeckt: „Ich will nach der Sejm-Wahl 2015 erneut polnischer Außenminister werden.“Doch dieses Votum könnte schon sehr bald fällig sein, da Regierungschef Tusk mitten in einer Abhöraffäre steckt. Das Magazin Wprost hat vor Tagen ein abgehörtes Gespräch zwischen Innenminister Sienkiewicz und Nationalbankchef Belka publiziert, bei dem es um Konjunktur- und Wahlhilfen für die Regierung ging. Zunächst hatte der Premier wohl gehofft, den Skandal aussitzen zu können – inzwischen werden vorgezogene Neuwahlen immer wahrscheinlicher.Es ist also nicht garantiert, dass Sikorski Ashton beerben kann. Es muss sich nicht nur in Warschau behaupten, sondern in Westeuropa erst einmal durchsetzen. „Länder wie Frankreich, Italien oder Großbritannien sind nicht an einer EU-Ostpolitik interessiert, wie sie Polen vertritt“, meint der Politologe Michał Sutowski vom Warschauer Institut für Höhere Studien. Sikorski habe sich bislang im Ukraine-Konflikt wie ein „gemäßigter Neokonservativer“ verhalten. Tatsächlich gilt für ihn: Dialog mit Russland bei gleichzeitiger Stationierung von NATO-Truppen in Polen und notfalls schärferen Sanktionen. Sikorski bedauert zudem, dass die vor Jahren vorgesehene Dislozierung von US-Raketenabwehrsystemen in seinem Land ausblieb. Deshalb müsse man jetzt mehr für die Rüstung tun.„Das Herz des Militaristen freut sich immer, wenn auch die Linke endlich anerkennt, dass Verteidigung wichtig ist”, äußerte sich Sikorski, der ein strikt antikommunistisches Image pflegt, kürzlich in einem Interview, das wohl auch auf Teile der Sozialdemokratie in Deutschland gemünzt war. Dort denke man, „dass Stärke provoziert. Wir aber glauben, dass es Schwäche ist, die provoziert“. Ähnliches hört man von Sikorskis Ehefrau, der US-Publizistin Anne Applebaum. Die Autorin des mit dem Pulitzer-Preis geehrten Buchs Der Gulag vertritt wie ihr Mann die Ansicht, nicht die Ostpolitik des Westens habe die Sowjetunion kollabieren lassen, sondern allein die militärische Dominanz der USA.Es gehört zur ungewöhnlichen Vita dieses Politikers, dass er 1981 – gerade 18 Jahre alt – Schülerstreiks in seiner Heimatstadt Bydgoszcz führt, nach Großbritannien ins Exil geht, in Oxford Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und danach mit einem britischen Pass als Korrespondent aus Afghanistan berichtet. Eines seiner Bilder vom Hindukusch wird 1987 zum World Press Photo erklärt. 1992, nach Polen zurückgekehrt, steigt Sikorski zum stellvertretenden Verteidigungsminister, später Vizeaußenminister auf. Mehr als eine Fußnote wert ist sicherlich ab 2001 die Position eines Direktors der New Atlantic Initiative beim neokonservativen US-Thinktank American Enterprise Institute (AEI), wo er auf Leute wie Richard Perle oder Paul Wolfowitz trifft. Dieser Job geht nicht spurlos an ihm vorüber. Seit 2005 Verteidigungsminister in der Regierung der nationalkonservativen PiS, wettert Sikorski 2006 gegen die deutsch-russische Ostseepipeline und stellt das Projekt in die „Molotow-Ribbentrop-Tradition“. Dann aber gibt er sich als nüchterner Realist zu erkennen und wechselt 2007 locker zur Bürgerplattform (PO) von Premier Tusk, als der die Parlamentswahl gewonnen hat und ihm das Außenministerium anbietet.In diesem Amt verschafft sich Sikorski in der EU unter anderem Gehör, als er Ende 2011 bei einer Rede in Berlin mahnt: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“, was sich auf den seinerzeit befürchteten Zerfall der Euro-Zone bezieht. „Sikorski ist ein Pragmatiker und hat eine Evolution durchlaufen – weg von pro-amerikanischen hin zu pro-europäischen, vorrangig pro-deutschen Positionen“, sagt Politologe Sutowski. In Polen bescheinigen selbst scharfe Kritiker der Tusk-Regierung dem Außenminister einen dynamischen Part im Ukraine-Konflikt. „Er hat bislang gut agiert, aber das Treffen mit Frank-Walter Steinmeier und Außenminister Sergei Lawrow in Petersburg am 10. Juni war nicht konsequent. Kontakte mit Russland müssen auf Eis gelegt werden“, meint der Warschauer Publizist Piotr Semka.Für die Brüsseler EU-Spitze gilt Sikorski inzwischen als ein Wortführer der Staaten Mittelosteuropas (MOE), besonders hinsichtlich deren Verteidigung. Wie die zu geschehen hat, wird durch die Stationierung von zwei NATO-Brigaden in Polen demonstriert. Nicht alle MOE-Staaten können dieser Ostwallmentalität gegen Moskau etwas abgewinnen. Die Slowakei lehnt das Verschieben von NATO-Truppen auf ihr Territorium strikt ab, Tschechien bleibt vorsichtig. Ohnehin will Sikorski seine Mission nicht auf die ehemaligen Ostblockstaaten beschränkt wissen. „Die EU ist ein Organismus, in dessen DNA es kein geopolitisches Denken gibt – sie sollte ja die Befreiung von Geopolitik sein. Polen hat deshalb getan, was es konnte, um geopolitische Ambitionen in der EU zu wecken.“2019 wird wieder die Position des NATO-Generalsekretärs vakant sein. Sollte es mit dem EU-Außenminister nichts werden, könnte sich Sikorski nochmals um dieses Amt bewerben. Er tat es bereits im März, ließ dann aber dem Norweger Jens Stoltenberg den Vortritt.