Der Fall Politkowskaja wird nicht abgehakt

Russland Keine neuen Ermittlungen, nur einen zweiten Prozess soll es zum Fall Politkowskaja geben. Die Familie der 2006 ermordeten Journalistin will sich damit nicht begnügen

Im Allgemeinen sind juristischen Spiegelfechtereien, wie sie faktisch mit jedem Prozess einhergehen, nichts Besonderes. Doch im Fall Anna Politkowskaja handelt es sich nicht nur um einen sensationellen Mord, sondern ebenso um eine freche Herausforderung der Macht. Trotz der Meinung von Premier Putin, die Journalistin sei in der Gesellschaft nicht besonders populär gewesen, hatte er im Oktober 2006 während eines Deutschland-Besuches gegenüber Kanzlerin Merkel erklärt, dieser Mord sei „grässlich und brutal“.

Angst um die Geschworenen

Zur Erinnerung: Politkowskaja war am 7. Oktober 2006 vor ihrer Wohnung mit drei Schüssen getötet worden. Bekannt für ihre Berichte, in denen sie die Taten der Mächtigen während des Tschetschenien-Krieges entlarvte und für ihre scharfe Kritik an Wladimir Putin persönlich wurde sie von Jassen Zasurski, dem damaligen Dekan der Fakultät für Journalistik der Moskauer Lomonossow Universität, als „erschossenes Gewissen der Nation“ bezeichnet. Spätestens in diesem Augenblick war klar: Jedes Gerichtsverfahren, das sich mit diesem Fall beschäftigt, wird ein politischer Prozess sein – die Persönlichkeit der Toten, die Tatumstände, der Kontext führen unweigerlich genau dazu.

Wenn nun das zuständige Gericht, das Ersuchen der Angehörigen abweist, es möge neue Ermittlungen und einen neuen Prozess unter Berücksichtigung wirklich aller Mordumstände geben, dann sind sich die Richter wohl dessen bewusst, dass die Familie Politkowskaja – der Sohn und die Tochter – die erneute Untersuchung nicht nur aus persönlichen Gründen verlangen. Schließlich ist die russische Opposition seit langem der Auffassung, die Behörden seien an einem realen Prozess nicht interessiert. Mit anderen Worten, die Angehörigen von Anna Politkowskaja kämpfen nicht nur gegen das Gericht, sondern auch gegen die Staatsmacht an sich.

Während ihrer Pressekonferenz am 7. August bei RIA Novosti nannte die Tochter der Journalistin, Wera Politkowskaja, den voraussichtlich am 7. September beginnenden zweiten Prozess eine Farce, an der sie „nicht teilzunehmen wünsche“. Ihr Anwältin Karina Moskalenko äußerte unverhohlen den Verdacht, die Geschworenen für den anstehenden Prozess würden nicht korrekt ausgewählt. Auf alle Fälle müssten „die Geschworenen geschützt werden“.

Unterwegs nach Straßburg

Hatten die Kinder von Anna Politkowskaja auf der erwähnten Pressekonferenz bei RIA Novosti in erster Linie ihre Haltung dem Gericht gegenüber zum Ausdruck gebracht, so galt der zu Wochenbeginn in der Nowaja Gaseta, der führenden Oppositionszeitung Russlands, auf der Titelseite veröffentlichte Brief von Wera und Ilja Politkowski unmissverständlich den höchsten Staatsbeamten. Dieses Papier – faktisch ein Manifest – liest sich wie eine direkte Anklage gegen die Vollstrecker der Macht. Die Überschrift wirkt eher neutral: Der Staat zeigt sein totales Desinteresse an der Aufklärung des Mordes an unserer Mutter. Der Hinweis auf eine Kausalität ist klar: Wenn die Behörden desinteressiert sind, wird dies vom Gericht als direkte Handlungsanweisung verstanden. In dem Brief wird festgestellt, dass „der Staat es vorzieht, Ermittlungsverfahren gegen zweitrangige Personen anzustrengen, deren Rolle bei diesem Verbrechen unklar und deren Beteiligung daran nicht in gebührender Weise bewiesen ist“.

Die Familie von Anna Politkowskaja wartet die Prüfung ihrer Beschwerde ab, die im April 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht worden war. Hat die Beschwerde Erfolg, werde der russische Staat gezwungen sein, diesen Fall „wenigstens effektiv zu untersuchen“, ist die Anwältin Karina Moskalenko überzeugt.


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