FREITAG: Herr Roes, wann waren Sie zum letzten Mal in New York?
MICHAEL ROES: Im Dezember letzten Jahres. Dort habe ich mit Dreharbeiten zu meinem jemenitischen Macbeth begonnen, die dann im Jemen fortgesetzt wurden. Die Hauptrolle spielt ein New Yorker, der mit der Obsession, einen arabischen Macbeth zu drehen, in den Jemen reist.
Was bedeutet die Stadt für Sie? Was fasziniert Sie an Ihr?
Ich liebe New York. New York ist eigentlich eine Welthauptstadt. Die lässt es zu, dass man dort nicht Fremder ist. Man braucht nicht die üblichen Initiationen, um dazu zu gehören. New York ist eine Stadt, die aus Fremden besteht, die nur eint, dass sie in New York leben. Das macht sie so angenehm.
In Ihrem Kriminalroman von 1999 "Der Coup der Berdache" ist New York eine Kulisse für die kulturelle Konstruktion der Geschlechter. Doch hat sich da am 11. September nicht wieder echte Realität gezeigt?
Stimmt das? Was ist denn Realität? Die Realität, die wir wahrnehmen, ist bereits vermittelt, kulturell überformt, manipuliert. Dass Menschen Menschen ermordet haben, ist längst unter einer ausufernden Symbolik verschwunden. Man spricht von Krieg, Kreuzzügen. Die wirklichen Opfer, die ganz reale Zerstörung verschwindet bereits dahinter. Die Realität hat nur wahrgenommen, wer unmittelbar vor Ort war. Das reale Mitfühlen mit den Menschen ist schon sehr schwierig aus der Distanz heraus. Inzwischen überwuchert die Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung alles andere.
Hatten Sie das Gefühl, dass Sie bei den Bildern von New York manipuliert wurden?
Schon, dass diese Bilder mich erreichten und andere Bilder mit einem ähnlich schrecklichen Ausmaß nicht - da fängt die mediale Verknüpfung an. Die Medien vermitteln, was mir nahe ist, was mir nahe zu sein hat. Was nicht wahrgenommen wird. Hier wird Nähe künstlich suggeriert. Da sind plötzlich Brüder und Schwestern, denen ich solidarisch bin, obwohl die räumliche Distanz womöglich größer ist als nach Palästina oder in den Irak.
Welche Empfindungen hatten Sie nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center?
Erschrecken und Stummsein. Jetzt darüber zu sprechen, ist mir fast zu früh. Gleichzeitig gab es eine verstörende Faszination über die Ästhetik der Bilder. Dort hatte sich ein Terroranschlag in einer erschreckend wunderbaren Form selbst inszeniert. Besser hätte es Hollywood nicht gekonnt. Bis hin zu dem Zusammenbruch der Häuser. Alles hatte eine Art von Künstlichkeit. Es ist immer schwerer zu trennen zwischen Nachrichtenbildern und inszenierten Bildern, weil viele Nachrichtenbilder bereits inszeniert sind und weil viele inszenierte Bilder so nah am Dokumentarischen sind. Das droht immer stärker ineinander über zu gehen. Für mich war die einzige Möglichkeit, das wieder zu trennen, die Distanz he zustellen, auch die Gedanken wieder herzustellen, die Bilder auszuschalten, nicht in dieser Endlosschlaufe stecken zu bleiben. Nicht Flugzeuge, die aus der aufgehenden Sonne auftauchen. Oder New York, das im Staubnebel versinkt - ein Bild wie von Feininger. Das war so surreal, dass es das Nachdenken und auch das Nach-Empfinden über das, was wirklich passiert ist, behinderte.
Ist das, was in New York passiert ist, ein Krieg oder war es nur ein Terroranschlag?
Es war ein Terroranschlag. Kein Krieg. Der Terror will mit den zur Verfügung stehenden Mitteln Tod und Schrecken verbreiten. Dass es quantitativ solche Ausmaße angenommen hat, hat mehr mit dem technischen Fortschritt zu tun als mit der Natur des Terrors. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass mit der Fülle der Menschen, die auf diesem Planeten leben, und mit dem Fortschritt der Technik die Verwundbarkeit und die Verluste bei Katastrophen zunehmen. Diesen Terroranschlag jetzt als Krieg umzudeuten, ist gefährlich, weil Krieg meist bedeutet, die eigenen zivilen Standards außer Kraft zu setzen. Ich habe dann plötzlich das Recht, mit allen Mitteln zurückzuschlagen. In den vergangenen Kriegen hat es zum größten Teil Zivilisten und Unschuldige getroffen. Es ist kein Krieg Militär gegen Militär. Sondern es ist ein diffuser Gegner. Allenfalls kann die Quantität der Opfer die Quantität der eigenen Opfer aufwiegen, kaum aber entschuldigen. Das Wort "Krieg" stimmt uns ein auf Auseinandersetzungen wo wir nicht mehr rechtsstaatlich handeln, wo Zivilrechte und Bürgerrechte nicht mehr gelten. Wo Kriegsrecht gilt. Das ist gefährlich. Denn dann hat der Terror - wie schon in den 70er Jahren in Deutschland - erreicht, dass das zum Anlass genommen wird, die eigenen Bürgerrechte außer Kraft zu setzen.
Mit Krieg kann man die kollektive, beschädigte Identität re-definieren.
Krieg heißt: das Eigene rückt zusammen und das Fremde wird noch fremder. Das wäre ein Rückfall in tribale Strukturen. Das ist eine Einstimmung darauf, möglichst wenig vom Anderen zu wissen oder wahrzunehmen. Damit er zum Opfer werden kann. Denn je mehr ich von ihm weiß, um so mehr entdecke ich, dass er ein Mensch ist wie ich und dass uns wenig trennt von ihm. Dann wird es schwieriger, ihn anonym umzubringen.
Was fasziniert Sie an den arabischen Ländern?
Die arabischen Länder gibt es nicht. Die Mentalitäten und Kulturen sind so vielfältig wie in Europa. Norwegen und Italien unterscheiden sich wie Algerien und der Jemen. Ich habe eine besondere Beziehung zum Jemen, weil er am authentischsten dem nahe kommt, wie arabische Kultur sich selbst definiert. Der Jemen wurde nie vollständig kolonialisiert. Die anderen arabischen Ländern haben nicht die ungebrochene Identität. Sondern eine furchtbare Kolonialgeschichte oder Befreiungskriege wie Algerien. Das ist mit verantwortlich für diesen übersteigerten Nationalismus und diese Unsicherheit, was das Eigene überhaupt ist.
Ich habe ihren 1996 erschienenen Roman "Leeres Viertel - Rub al Khali", in dem sie die Reise des Gelehrten Alois Schnittke aus dem 18. Jahrhundert und die eines zeitgenössischen Wissenschaftlers beschreiben, als eine symbolische Annäherung an diese Welt gelesen. Beide entdecken ein Territorium der verlorengegangenen Sinnlichkeit, des empfindenden Denkens, des Augenspiels und der Körpersprache. Ist das ein Unterscheid zwischen Arabien und dem Westen?
Das Buch ist nicht spezifisch für die Entdeckung der arabischen Kultur. Sondern für die Entdeckung des Anderen überhaupt. Egal, wohin ich reise, werde ich ab einem bestimmten Punkt entdecken, dass das Fremde etwas Oberflächliches ist und dass dahinter existentielle, ähnliche Erfahrungen stecken: Geboren-Werden, Hunger-haben, Angst-haben, Liebe-suchen. Ich glaube, es gibt immer mehr von dem, was die Menschen eint. Die Unterschiede sind kulturell definiert. Im Zeitalter der Globalisierung könnten wir eigentlich von einer Menschheitsfamilie sprechen. Aber offenbar muss man das Eigene immer noch vom Anderen ab-grenzen. Das Andere ist aber ein austauschbares Etikett. Mal waren es die Kommunisten. Mal waren es die Juden. Jetzt sind es die Moslems. Doch auch diese Differenzierung versagt. Denn die Moslems sind längst unter uns. Das macht es so schwierig, sie von uns abzugrenzen. Also sind es militante Moslems. Oder bestimmte Länder. Was auch absurd ist. Denn ein Großteil der Bevölkerung ist vollkommen ohnmächtig demgegenüber, was die Politiker dort verbrechen. Es wäre unsinnig, einfach sie oder ihre Kultur dafür zur Verantwortung zu ziehen.
Haben Sie Angst vor dem neuen Feindbild Islam?
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Irak-Krieg ist es latent vorhanden. Es muss jetzt herhalten für den militärischen Komplex. Ich habe keine Angst, dass der Islam der Feind sein könnte, sondern vor der zunehmenden Ignoranz. Vor der Dummheit des amerikanischen Präsidenten und seinen Beratern aus der Rüstungslobby. Die wollen diesen angeblichen Gegner gar nicht verstehen. Ich habe Angst um die arabischen Freunde in New York, die Amerikaner arabischer Herkunft oder muslimischen Glaubens sind. Ich habe Angst um die Vielfalt. Denn der Feind ist nicht außen. Er ist nicht lokalisierbar. Er ist willkürlich definiert. Ihm wird ein Etikett angehängt. Der reale Feind ist eine reale Person. Und nicht eine kulturelle Schablone. Keine Konfession.
Hätte Ihre Menschheitsfamilie nicht auch Unterschiede?
Ich will die Differenzen nicht wegreden. Das macht Menschen reich. Was wir lernen müssen, ist, die Differenzen auszuhalten. Und das Eigene nicht absolut zu setzen. Da ähneln sich auf erschreckende Weise der islamische Fundamentalismus und der westliche Fundamentalismus. Es gibt einen religiösen Wahn der eigenen Superiorität. Und eine große Ignoranz der anderen Kultur gegenüber. Beide kennen meist nur Klischees vom Anderen. Wenn sie mehr voneinander wüssten, würden die Feindbilder zusammenbrechen. Das geht bis in die Terminologie. Die Fundamentalisten der einen Seite reden vom Dschihad. Und geantwortet wird mit Kreuzzug. Das sind mittelalterliche Begriffe, religiös aufgeladen. Das ist Ethnozentrismus pur. Die werfen Standards, die wir im 20. Jahrhundert erarbeitet haben, über Bord. Sie postulieren eigene Überlegenheit und deklarieren den Anderen als Menschen zweiter Klasse, den man eliminieren darf.
Hielten Sie einen Krieg gegen Afghanistan oder gezielte Schläge gegen die dort lebenden, mutmaßlichen Terroristen für gerechtfertigt?
Niemand ist in diesen Tagen frei von Hassgefühlen gegen die Verbrecher. Ich halte gezielte Schläge gegen sie für gerechtfertigt. Aber wer garantiert, dass die Richtigen getroffen werden? Und wer sind die Verbrecher? Noch stehen wir ohnmächtig vor einem Phantom. Nun alle Afghanen für Verbrecher zu halten, wäre absurd. Das ist ein geschundenes Volk. Seit Jahrzehnten war es Schlachtfeld für die Auseinandersetzungen der Großmächte. Die Amerikaner haben dort einen Stellvertreterkrieg gegen die Russen geführt. Haben lange die Taliban und die Terroristen aufgebaut, die sich jetzt gegen Amerika wenden. Das Volk wäre wieder nur Opfer, wenn blind irgendwo Raketen abgeschossen werden. Damit würde neuer Terror legitimiert. Es macht kein Opfer lebendig. Es wäre primitiv.
Wie sollte man das Verbrechen von New York ahden?
Es gibt ein Versagen der Politik, das dem Verbrechen vorangegangen ist. Eine andere Politik kann Anschläge zwar nicht verhindern. Weil es immer verrückte Menschen gibt. Aber wenn sich jetzt nicht auch die Politik verändert, geht diese Spirale weiter und jeder fühlt sich für den nächsten Anschlag legitimiert. Man kann die Konflikte klar benennen, die Mitursache sind: Israel, Palästina, Irak, Afghanistan. Wenn man die löst, könnte man viel terroristische Gesinnung und Genugtuung trocken legen. Aber ich sehe im Moment nur militärische Eskalation. Im Schatten des Anschlags beantwortet Israel Terror mit Staatsterror. Aber nimmt sich dadurch jede Legitimation, diesen Terror noch zu kritisieren. Wenn ich selber Menschen eliminiere ohne Gerichtsurteil, dann wende ich Standards an, die einer zivilisierten Gesellschaft nicht entsprechen.
Belegt der Anschlag von New York, dass Samuel Huntington mit seiner These vom Kampf der Kulturen Recht behält?
Das glaube ich nicht. Der Kampf der Kulturen ist herbeigeredet. Die wenigsten wollen diesen Kampf. Die meisten Menschen überall auf der Welt sind neugierig auf das Andere, finden es erst mal interessant. Ich kenne in der arabischen Welt genügend Menschen, die Amerika und Europa kennen lernen wollen. Europa schottet sich ab, baut die Mauern zu einer Festung. Auch so ein Wort aus der Kriegs-Terminologie.
Ist Hans-Magnus Enzensbergers alte These vom molekularen Weltbürgerkrieg bestätigt?
Terror ist etwas Unberechenbares. Er entstammt nicht nur politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen Konflikten. Es gibt auch Terror in den zivilisierten Ländern selbst. Denken Sie an Japan, Ägypten, die Nazis in Amerika. Man wird nie verhindern können, dass es Wahnsinnige gibt, die sich für auserwählt halten und Menschen vernichten wollen. Das bleibt eine Art von psychologischer Unberechenbarkeit des Menschen.
In Ihrem neuesten Roman "David Kanchelli" ist die Welt in zwei Lager aufgeteilt. Es gibt die Union und die Liga, einen christlicher Gottesstaat und eine marode Dritte Welt. Es gibt gut und böse. Wollten Sie da die Zukunft vorwegnehmen?
Es ist ein Science-Fiction-Roman, der eher als Warnung vor einer polarisierten Welt gedacht ist. Die Bruchlinien gehen im übrigen durch die Zivilisationen. Es gibt zivilisierte und unzivilisierte Teile in jeder Gesellschaft. Wir sehen die Bruchlinie auch an dem jetzigen Diskurs. Dass ein Teil der Intellektuellen, die pazifistisch sind oder nach Vernunft rufen, als feige und defätistisch beschimpft werden. Es bekommt alles absurde Züge. Die alten Trennungen stimmen nicht. Sie sollen nur die inneren Bruchlinien vertuschen. Die Kritik von Susan Sontag an der amerikanischen Politik hat selbst schon etwas Terroristisches: Dass so ein Anschlag fast nötig ist, um das Auseinanderdriften unserer eigenen Gesellschaften zu stoppen.
Sie hat die US-Regierung für ihre Gewaltanwendung in der internationalen Politik kritisiert. Noch immer bombardiere sie den Irak...
Sie hat insofern Recht, als es eine Doppelzüngigkeit gibt. Permanent bestehen wir im Westen auf Zivil- und Bürgerrechten. Aber wo sie nicht unseren ökonomischen Interessen entsprechen, werden sie verraten. Wenn wir diese Standards für universal hielten, dürften wir nicht dulden, was in Israel passiert. Dann dürften wir auch im Irak nicht ein ganzes Volk für die Politik eines Diktators verantwortlich machen. Wir haben nur das Recht mit Härte zurückzuschlagen, wenn wir die eigenen Standards überall anwenden.
Läuft man mit dieser Argumentation nicht Gefahr, die amerikanischen Opfer kleiner zu machen, die Mordtat zu verharmlosen?
Auf gar keinen Fall. Immer, wenn irgendwo ein schreckliches Verbrechen geschieht, suchen wir aus Verunsicherung und dem Wunsch nach Vergeltung rasch nach einem Täter. Aber nirgendwo in einer zivilen Gesellschaft ist es legitim, irgendeinen Unbeteiligten zur Rechenschaft zu ziehen, wenn auch immer wieder Unschuldige in den Todeszellen und wohl auch auf den elektrischen Stühlen landen. Das kann aber nur zur Folge haben, nicht am Erstbesten, der einem in die Hände fällt, blind Rache zu üben.
Wie sollte Deutschland jetzt agieren?
Mich bedrückt, dass die Europäer und die Deutschen, statt eine Vermittlerrolle zu übernehmen, sich in Nibelungentreue üben. Sofort wird der NATO-Kriegsfall ausgerufen. Man wird mit zum Täter, obwohl man eigentlich nicht das Opfer ist. Man nimmt sich die Chance, eine Brücke zu sein. Auch das ist ein Versagen der Politik.
Können Schriftsteller in dieser aufs äußerste angespannten Situation etwas tun? Was können Sie tun?
Sie sollten nicht aus der Hüfte schießen. Sondern versuchen nachzudenken. Auch für unsere Arbeit gibt es eine Zäsur. Gut ein Jahrzehnt gab es eine Stimmung der Dekadenz, Endzeit und Entpolitisierung. Als gäbe es Gut und Böse nicht mehr, keinen Ort mehr, an dem man Stellung beziehen, sich für etwas einsetzen kann. Das war Mainstream. Das ist, glaube ich, vorbei. Das war eine beschränkte Sichtweise. Man konnte hier im Wohlstand versacken, sich nach dem Spaß an der Lustlosigkeit laben. Aber das galt nie für den größten Teil der Welt. Da gibt es die elementaren Überlebenskämpfe. Das war ein Luxus, ein Privileg. Jetzt sehen wir plötzlich, es ist eine Welt, wir können uns nicht ausklinken. Was fern von uns scheint, holt uns ein. Was wir in der Ferne tun oder lassen, hat Auswirkungen für uns. Daraus muss eine andere Verantwortung wachsen.
Aber Postmoderne und Ironie sind jetzt nicht plötzlich verboten?
Ironie, sagt Richard Rorty, ist notwendig, um sich gegen die Fundamentalismen zu stellen. Ironie und Solidarität gehören zusammen. Zu wissen, dass es absolute Wahrheiten nicht gibt, sondern eine Relativität der Wahrheiten, und dass man trotzdem solidarisch handeln und sich gegen jede Form von Grausamkeit einsetzen muss. Der Überlegenheitswahn ist in keiner Weise überwunden. Der zieht nur die Grenzen neu. Den Gruppeninteressen, die nach wie vor die Welt beherrschen, kann man nur mit Ironie begegnen. Wir brauchen eine Art von Werterelativismus, der sich auf bestimmte zivilisatorische Mindestannahmen einigt, ohne zu sagen, das ist der absolute Wert.
Das Gespräch führte Ingo Arend
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