Der feine Unterschied

Linksbündig Prekariat oder Unterschicht: Die einen schauen arte, die anderen 9live

So herzlos können Marxisten sein. Über die spätestens von Kurt Beck Unterschicht genannte Gruppe heißt es von radikalerer Seite, sie sei der "Abhub der verkommenen Subjekte", und wenn man sie erschösse, dann tue man dies "in der richtigen Erkenntnis, dass man vor allem sich diese Bande vom Hals halten" muss.

Über das Prekariat hätte Friedrich Engels bestimmt nie so gesprochen. In der neuen Armut, die es hier zu Lande trotz Sozialstaatsgebot, Exportweltmeistertitel und sozialdemokratischem Sozialminister zu attestieren und zu beklagen gilt, darf unterschieden werden. Um die Unterschichten, die Engels noch Lumpenproletariat genannt hat, kümmern sich die Talkshows des "Unterschichtenfernsehens" (Harald Schmidt); das Prekariat hingegen ist Gegenstand des Feuilletons. Der Unterschied zwischen Prekariat und Unterschicht ist offensichtlich: Die einen gucken arte, die anderen 9live. Die einen wollen nicht mit einem wie Kurt Beck reden; die anderen können es nicht. Den einen bedeuten eigene Kinder ein Armutsrisiko, den anderen sichert jedes weitere Kind durch Erziehungs- und Kindergeld das Familieneinkommen.

Und auch hier zeigt sich der Unterschied: Schreiben über die Unterschicht heißt wirklich das: Schreiben über sie, ohne dass sie es je mitbekäme. Schreiben über das Prekariat heißt hingegen: Schreiben für das Prekariat. Denn das Prekariat kann lesen, schreiben und seine Situation analysieren. Es mag von der materiellen Ausstattung ähnlich mies dran sein, wie die anderen ALG-II-Bezieher, aber es verfügt noch über kulturelles Kapital. Daher ist das Prekariat auch eher Bezugspunkt der Debatten über neue Armut in Deutschland als die Unterschicht.

Prekariat ist man schließlich selbst, war es selbst und hat Angst, es selbst zu werden. Prekäre, das sind Kulturarbeiter mit abgeschlossenem oder geschmissenem Studium, die jobben, um sich ihr Leben zu finanzieren, wie sie sich vormals ihr Studium finanzierten. Prekäre finden sich in Callcentern, in Kneipen, in der Altenpflege und dem Taxi. Sie schreiben auch für schlecht und unpünktliche zahlende Zeitungen, erledigen hier einen Übersetzungsauftrag, da die Organisation einer Ausstellung, verkaufen hier mal ein selbst gemaltes Bild, richten dort mal einen PC neu ein, und vergessen, so es halbwegs zu finanzieren ist, keinesfalls den Urlaub, das gute Essen oder die Bildung.

Im Prekariat findet die Simulation einer bürgerlichen Gesellschaft früherer Zeiten statt - als aus Akademikern noch garantiert Führungskräfte der Gesellschaft wurden, als man vom Verfassen von Büchern und Zeitungsartikeln noch gut leben konnte. Die Existenz des Prekariats zeigt ja nicht nur, dass es promovierte Taxifahrer und habilitierte Küchenhilfskräfte gibt, sondern auch dass sich die Kulturindustrie nicht wesentlich von der Dienstleistungsindustrie unterscheidet: Beide boomen, beiden wird eine große Zukunft vorausgesagt, aber ein einigermaßen zur Reproduktion taugendes Gehalt wird weder dem Pizzaboten noch dem Schriftsteller geboten.

Die Klage der Prekären wie der Nichtprekären über das Prekariat ist auch die Beschreibung der Angst vor dem Abstieg. Und sie ist der Versuch, mit den aus dem kulturellen Kapital geschöpften Mitteln den Abstieg dergestalt zu verhindern, dass man sich als besonderes und besonders schützenswertes Milieu präsentiert. "Prollig", "Assi" oder "Neukölln" werden Menschen und ihre Umgangsformen abschätzig genannt, die sich den gängigen bürgerlichen Gepflogenheiten verweigern. Mit denen möchten Prekäre nichts zu tun haben, denn bei denen fehlt es an allem: Bildung, Geld, Perspektive und auch den kulturellen Voraussetzungen zur Veränderung ihrer Lage. Zu der miesen Behandlung durch die staatlichen Fürsorgestellen gesellt sich noch die Verachtung der Prekären, die zwar auf dem gleichen Flur auf die Fürsorge warten, dabei aber nicht Bild lesen, sondern Beckett.

Das einzige, was an dieser traurigen Situationsbeschreibung wirklich verwundert, ist, dass sich der Ausdruck Lumpenproletariat noch nicht durchgesetzt hat, um sich der Unterschicht, diesen Assis und Prolos, auch sprachlich zu entledigen. Mit denen nämlich, hier sind die Prekären der Gegenwart fast so herzlos wie der den Tod des Lumpenproletariats fordernde Friedrich Engels, ist gar nichts Fortschrittliches anzufangen.


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