Was mit dem Asylrecht in Zukunft geschehen soll, haben die EU-Justizminister im April 2004 in ihrer Richtlinie für Asylverfahren zu verstehen gegeben: Die Drittstaatenregelung soll auch auf Staaten außerhalb der Europäischen Union, insbesondere Afrikas und Osteuropas ausgeweitet werden. Wenn sämtliche Grenzstaaten zu Europa (auch nordafrikanische Länder) als sicher gelten würden, wäre ein Ring um die EU geschaffen, der Flüchtlingen auf dem Landweg kaum mehr eine Chance auf Asyl in Europa ermöglicht. Konsequent zu Ende gedacht hieße dies, dass die EU ihre Asylbehörden vollständig an die EU-Außengrenzen verlagern könnte.
Das von Otto Schily im vergangenen Jahr vorgestellte Szenario, "Auffanglager" für Flüchtlinge in Nordafrika einzurichten, nimmt langsam konkrete Gestalt an. Im Oktober 2004 Jahres trafen sich im niederländischen Scheveningen die europäischen Innenminister, um über die Pläne zu diskutieren. Sie zeigten sich dieser Idee grundsätzlich nicht abgeneigt; zunächst, so schlug die zu diesem Zeitpunkt amtierende niederländische EU-Präsidentschaft vor, sollten jedoch die Transitländer, wie beispielsweise Libyen, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) unterzeichnen.
Überraschend einigten sich die Minister gleichzeitig darauf, ein Pilotprojekt für Asyl-bewerber in den fünf nordafrikanischen Staaten Libyen, Marokko, Mauretanien, Algerien und Tunesien zu errichten. Der amtierende EU-Justiz- und Innenkommissar, António Vitorino, bestritt umgehend, dass dies mit den Schily-Vorschlägen zu tun habe. Es ginge vielmehr darum, in den entsprechenden Staaten in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ein Asylsys-tem nach europäischen Standards aufzubauen, um den Flüchtlingen, die nach Nordafrika fliehen, bessere Rahmenbedingungen und Betreuung gewährleisten zu können. Denn diese Staaten, die früher selbst Herkunftsländer von Asylsuchenden waren, gelten heute vornehmlich als Transitländer oder sogar Asylzielstaaten. Dabei soll es in erster Linie um Hilfeleistungen logistischer und finanzieller Art gehen. So könnten Beamte und Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden. Im übrigen könnte dadurch den im Mittelmeer aufgegriffenen "boat people" schneller Hilfe geleistet werden. Parallel dazu soll die EU mit finanzieller Unterstützung die Lebensbedingungen in den Herkunfts- und den Transitländern verbessern.
Wie diese "Hilfeleistungen" juristisch begründet werden, ist allerdings noch unklar. Schily machte immerhin deutlich, dass ein Asylantrag für einen EU-Staat nur auf EU-Gebiet gestellt werden könne. Insofern würde an diesen Orten auch kein europäisches Rechtsschutzsystem garantiert. Darüber hinaus sind etliche Fragen offen: Wer die Verwaltung dieser Programme leiten soll (etwa EU-Beamte), ob diese Zentren faktisch den Charakter von Zeltstädten mit medizinischer Versorgung oder doch eher von Flüchtlingslagern annehmen werden - oder ob sie letztlich als Sammelstellen fungieren für den Rücktransport in die Herkunftsländer, ist noch genauso unklar, wie die Frage, ob dorthin auch Flüchtlinge geschickt werden können, die die EU schon erreicht hatten.
In einem von der EU-Kommission parallel dazu vorgestellten sogenannten Neuansiedlungsprogramm könnten einzelne EU-Mitgliedstaaten in einem "pledging-Verfahren" erklären, wie viele Flüchtlinge sie im Kontingent aufnehmen wollen. Dies deutet die Richtung an, in die das europäische Asylrecht zukünftig zu gehen droht: Jeder Staat wählt eine handverlesene Zahl von Flüchtlingen nach den jeweiligen Staatsinteressen oder zu symbolischen Zwecken aus statt einer an den Vorgaben der GFK orientierten Einzelfallprüfung.
Die politische Realität ist hier schon erstaunlich fortgeschritten: Italien schloss mit Libyen ein Rückübernahmeabkommen, die EU verhandelt mit Algerien und Marokko über solche Verträge, Deutschland und Polen haben mit osteuropäischen Staaten wie Rumänien oder der Ukraine schon längst bilaterale Abkommen, in welchem Maße Flüchtlinge wieder rückgeführt werden können. Italien machte dabei mit der Zurücksendung von eintausend Flüchtlingen ohne jegliche Prüfung ihres Asylbegehrens vor der italienischen Insel Lampedusa klar, dass es ihnen vollkommen gleichgültig ist, ob Libyen die GFK ratifiziert hat oder die Menschenrechte achtet, sondern dass sie die Flüchtlinge alsbald wieder los sein wollen.
Die Grundlage der GFK, das non-refoulement Prinzip, das verbietet, einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit bedroht wären, wird bei einer Ausweisung in solche Staaten wie Libyen oder Algerien, die die Menschenrechte gerade im Umgang mit Flüchtlingen regelmäßig missachten, ad absurdum geführt. Zudem werden diese Staaten nun zu humanitären Asylzielländern umetikettiert. Menschenrechtsorganisationen warnen davor, dass aus diesem Grund die Finanzierung von Rückübernahmeabkommen durch die EU und die bilateralen Übereinkommen mit diesen Ländern sehr problematisch seien. Letztlich werde die Zuständigkeit für eine Rückführung erkauft, die menschenrechtliche Situation ändere sich jedoch nicht.
Vieles spricht dafür, dass die EU unter dem Vorwand einer humanitären Hilfe für Flüchtlinge tatsächlich das Ziel verfolgt, das Problem in Regionen jenseits ihrer Grenzen auszulagern. Die EU wird damit für Asylbewerber auf dem Landweg nahezu unerreichbar. Eine restriktiv angewandte Herkunftsstaaten- und Flughafenregelung könnte ergänzend dafür sorgen, dass auch der Luftweg kontrolliert wird. Die Forderung der EU an die afrikanischen Staaten, die GFK zu ratifizieren und die Menschenrechte zu achten und sie auf diesem Wege zu unterstützen, wirkt in diesem Licht geradezu zynisch. Unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe für Flüchtlinge wird hier der langfristige Plan der EU zur Auslagerung ihrer Flüchtlingspolitik außerhalb der Grenzen der EU vorangetrieben.
So wird schlimmstenfalls doch noch Tony Blairs im Jahr 2003 "neue Vision für Flüchtlinge" wahr, in der er davon sprach, so sogenannte "sichere Häfen" in Afrika zu errichten. Sie sollen aus einem System angrenzender Schutzzonen um Europa bestehen und nach dem Vorbild der Australier funktionieren, die solche Zonen mit Internierungslagern, in denen menschenunwürdige Bedingungen herrschen, auf ihren vorgelagerten Inseln längst etabliert haben. Mit der Idee eines individuellen Rechts auf Asyl hat dies nichts mehr zu tun.
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