Der fremde Blick

Fernweh Ende der vierziger Jahre begab sich Truman Capote auf ­Reisen. Seine Reportagen, in denen er auch kleinste Details schildert, sind ein frühes Beispiel des New Journalism

Der Verlag zum Buch:

Nach den erfolgreichen Bänden Tiffany und Marilyn Co. jetzt Truman Capotes dichte Reisereportagen aus den 50er-Jahren: von New York nach New Orleans und Hollywood, von der Adria nach Taormina, Ischia und Tanger; wieder in edler Sonderausstattung.
Truman Capotes Reiseschilderungen sind Glanzstücke des New Journalism: Seine einmalige Beobachtungsgabe verwandelt seine Begegnungen mit Menschen und Orten in Literatur. Überall, wo er hinkam, blieb Capote ein Fremder und verstand es dennoch oder gerade deshalb aufs Beste, sich die neuen Landschaften und Menschen schreibend zu eigen zu machen. „Der unerwartete Anblick eines Gartens, ein Abend in der Oper, wilde Kinder, (…) das funkelnde Mittelmeer am Fuß von Klippen – alles ein Teil von mir“, schrieb Capote während seiner ersten Reise nach Europa, die er 1949 mit 25 Jahren unternahm.

Leseprobe:

Haiti*

Äußerlich betrachtet ist Hyppolite vielleicht ein hässlicher Mensch. Er ist dünn wie ein Äffchen, abgezehrt und extrem dunkelhäutig. Aber durch seine lehrerinnenhafte Nickelbrille schaut er einen mit einer Aufmerksamkeit an, die von einem tiefen Verständnis zeugt. Man fühlt sich, was selten ist, in seiner Gegenwart einfach aufgehoben und angenommen.

Am Morgen, so hatte ich gehört, war seine Tochter gestorben, gerade acht Monate alt. Er hat noch mehr Kinder, fünf oder sechs, aus verschiedenen Ehen, doch er ist nicht mehr jung, und der Verlust muss ihn hart getroffen haben. Niemand hat mir gesagt, ob es eine Totenwache geben wird oder nicht, auf Haiti sind das ziemlich aufwendige, exzessive Veranstaltungen. Die Trauergäste, die zum größten Teil nicht einmal zur Familie gehören, reißen die Arme in die Luft, schlagen mit dem Kopf auf die Erde und lassen ein Geheul hören, das an Hunde erinnert. Nachts oder bei unvorbereiteter Begegnung mit einer solchen Truppe wirkt das so befremdlich, dass einem beinahe das Herz stehen bleibt. Erst später begreift man, dass es sich um Darsteller handelt.

Hyppolite gehört zu den bekanntesten sogenannten naiven Malern von Haiti und könnte sich locker ein Haus mit fließend Wasser leisten, mit Strom und richtigen Betten. Stattdessen begnügt er sich mit Kerzen und Petroleumlampen, und alle Nachbarn nehmen ebenso an seinem Leben teil wie er an ihrem, egal, ob es sich um das Leben der alten Frauen mit schütterem, flechtenartigem Haupthaar handelt, das der hübschen jungen Matrosen oder das der gebeugten Sandalenmacher. Vor einiger Zeit wollte ein Freund ihm etwas Gutes tun und hat ihm ein richtiges Haus gemietet, mit Betonfußböden und Wänden, hinter denen man sich verstecken konnte, aber glücklich war er dort nicht. Er braucht keine Privatsphäre und auch keinen besonderen Komfort. Allein das finde ich an ihm bewundernswert und auch, dass es nichts gibt, das auf geheimen, unterirdischen Wegen Eingang in seine Bilder gefunden hätte. Er malt einfach, was in ihm lebt, und das ist identisch mit der Kulturgeschichte dieses Landes, seiner Gesänge und Gottheiten...


*Orig.: Haiti (1948), aus: Local Color (1950)


© dieser Ausgabe: 2010 by Kein Aber AG, Zürich


Aufgrund von Absprachen mit den Verlagen, die uns die Leseproben zur Verfügung stellen, können wir diese nur für eine begrenzte Zeit online stellen. Vielen Dank für Ihr Verständnis!

Buch der Woche: Truman Capote, auf Reisen. Reportagen
Truman Capote
Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay
Kein & Aber
176 S., 14

Truman Capote wurde 1924 in New Orleans geboren. Mit neunzehn Jahren veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte Miriam in Mademoiselle. 1948 erschien sein Roman Andere Stimmen, andere Räume, der als das sensationelle Debüt eines literarischen Naturtalentes gefeiert wurde. Es folgten die Kurzgeschichtensammlung Baum der Nacht, 1950 die Reisebeschreibung Lokalkolorit und 1951 der Roman Die Grasharfe. Das 1958 veröffentlichte Frühstück bei Tiffany erlangte auch dank der Verfilmung mit Audrey Hepburn große Berühmtheit. Truman Capote starb 1984 in Los Angeles

Das Buch ist am 1. März 2010 erschienen

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