Die Wirklichkeit hat es schwer in der postmodernen Welt. Wo man ihr einst ungehindert begegnen zu können glaubte, löst sie sich auf in mediale Inszenierungen und zitathafte Verdopplungen ihrer selbst. Im hyperrealen Raum ist die Wirklichkeit nicht mehr von ihrer Simulation unterscheidbar. Christian Kracht hat diesen Weltzustand zur Jahrtausendwende mit seinen Generationsgenossen Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexander von Schönburg und Eckhart Nickel diskutiert und den Schwund der Authentizität von der Warte der Tristesse Royale aus betrachtet.
Als der Stand der Dinge nach zwei Tagen im Kreise des "popkulturellen Quintetts" ausdiskutiert schien und man die Executive Lounge des Hotels Adlon mit dem Protokoll dieser Pop-Performance im Gepäck wieder ve
#228;ck wieder verließ, machten sich Kracht und Bessing auf den Weg nach Phnom Penh. Es sollte nicht nur eine Reise ins Land Pol Pots und der Roten Khmer werden, das seine killing fields den Touristen als besondere Attraktion darbietet. Es sollte vor allem eine Reise ins "Zentrum des Verschwindens" sein. Tristesse Royale kulminiert in der perfekten Kulissenhaftigkeit. Am Ende wird das Phnom Penh, auf das die beiden Popliteraten durch die Fensterscheiben eines Cafés im Stadtzentrum schauen, von Männern in blauen Overalls weggetragen. Die beiseite geschobenen Hauswände geben den Blick frei auf das "wahre Phnom Penh", das allerdings "genau so aus[sieht] wie die eben weggetragene Kulisse". Die ganze Szenerie, inzwischen liegt sie neun Jahre zurück, war irgendwo zwischen Baudrillards Précession des simulacres und dem Videoclip zu dem Song Torn von Natalia Imbruglia angesiedelt. Aus dieser Perspektive erschien auch Pol Pots Folterzentrum nur wie eine Installation des französischen Künstlers Christian Boltanski.Von Phnom Penh nach PjöngjangNun hat Christian Kracht, zusammen mit Eva Munz und Lukas Nikol, Pjöngjang, die Hauptstadt der kommunistischen Diktatur Nordkoreas, besichtigt. Munz und Nikol haben fotografiert, Kracht leitet den daraus entstandenen Band mit seinem titelgebenden Vorwort Die totale Erinnerung ein. Erneut spielt Kracht in seinem Essay die postmodernen Virtualisierungsprozesse durch. Doch Nordkorea ist eben nicht Kambodscha, und Die totale Erinnerung ist nicht die Fortsetzung von Tristesse Royale. Was in Phnom Penh kaum mehr als das aus der Berliner Executive Lounge eingeschleppte Denkwerkzeug war, das an einem mehr oder weniger beliebigen Ort zur Anwendung gebracht werden sollte, um der Selbstinszenierung des popkulturellen Quintetts den hinreichend exzentrischen Abschluss zu verleihen, trifft in Pjöngjang auf seinen ihm gemäßen Gegenstand. Nordkorea steht selbst bereits unter dem Regime eines Filmregisseurs. Kim Jong-Il inszeniert sein Land nach der Maßgabe eines "schönen Films".1989 ließ der Diktator seine filmästhetischen Grundsätze unter dem Titel Über die Filmkunst im Verlag für fremdsprachige Literatur publizieren. Kracht, Munz und Nikol durchsetzen den Bildteil ihres Bandes immer wieder mit Zitaten daraus. Zu den zentralen Forderungen zählt Kim Jong-Il vor allem die "große Bedeutung des Alltagslebens". Man könnte das als ein Bekenntnis von geradezu popliterarischem Zuschnitt verstehen. Doch heißt es an anderer Stelle: "Spezialaufnahmen ermöglichen es den Autoren und Regisseuren, ihrer schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen und sie auf die Bildwand zu übertragen, wenn sie sinnvoll und bedeutsam ist. So ist sie wirklichkeitsnah." Die Wirklichkeit, die Kim Jong-Il mit Versatzstücken einer vulgären Lebensphilosophie als die Wirklichkeit der Menschen beschwört, ist in Wahrheit keine andere als die Wirklichkeit, die der "schöpferischen Phantasie" des einzigen Regisseurs Nordkoreas entspringt: Wirklichkeitsnah ist, was Kim Jong-Ils Inszenierung Nordkoreas entspricht. Das Simulative ist dem Realismus in der Ästhetikdoktrin des "Geliebten Führers" tief eingeschrieben.Das "erste wirklich postmoderne Land"Kracht bezeichnet daher das Nordkorea Kim Jong-Ils als das "erste wirklich postmoderne Land". "Medial vermittelte, also nicht nur simulierte, sondern projizierte Realität", konstatiert er, "ist die einzige Wahrheit in der Demokratischen Volksrepublik". Der mediale Inszenierungsaufwand, den Nordkorea betreibt, ist schon vor Kracht von den wenigen Besuchern, die Zutritt zu dem Land hatten, betont worden. Kracht selbst entlehnt die Beschreibung Nordkoreas als postmodernem Land Bruce Cumings Buch North Korea: Another Country (New York 2004). Doch Kracht, der seine Aufmerksamkeit schon immer auf die ästhetische Betrachtung des nach moralisch anerkannten Maßstäben nicht ästhetisch Betrachtbaren gerichtet hat, macht keinen Hehl aus der Faszination, die von dieser rigiden Durchästhetisierung der Wirklichkeit ausgeht; er klammert darüber nicht zuletzt die Frage nach dem Anteil der Moderne an der nordkoreanischen Postmoderne aus, die immerhin der alleinigen Regie des "Geliebten Führers" untersteht, anstatt sich als postmodernes Rhizom zu strukturieren. Seine in dieser Hinsicht unbedarft wirkende Rede von der "herrlichen Inszenierung" brachte ihm prompt die Kritik einiger Rezensenten ein.Solche Reaktionen sind durchaus kalkuliert. In seinem Vorwort verschachtelt Kracht drei Perspektiven, deren Verknüpfung dem moralischen Common Sense gezielt zuwiderläuft: Die offizielle westliche Kritik am Regime Kim Jong-Ils, die Kracht als "weniger sophisticated Agitprop" bezeichnet und die für ihn mit Kannibalismus, Nuklearwaffen und Drogenhandel das Maximum dessen versammelt, was nötig ist, um ein Land auf eine Weise anzuklagen, dass es gar nicht "schlimmer ... auf dieser Welt ... verteufelt werden" könne. Daneben die rechtfertigende Perspektive, die vor allem durch die frühere Bundespräsidentschaftskandidatin Luise Rinser vertreten wird, die über ihren Besuch eines Gefangenenlagers in Nordkorea zu Beginn der achtziger Jahre in ihrem Nordkoreanischen Reisetagebuch allen Ernstes behauptet hatte: "Was ich dieses Mal noch erfahre: Isolationshaft gibt es nicht, Folter ist ausgeschlossen, körperliche sowieso, aber auch seelische. Es gibt keine Besuchssperre, keine Briefzensur, keine Schläge, kein Anschreien, keine Demütigungen. Ich denke an meine eigene Gefängniszeit unter Hitler, aber auch an alle Strafgefangenen in bundesdeutschen Gefängnissen, ich denke an Stammheim. Und da redet man in der Westpresse von einer finsteren Diktatur in Nordkorea?" Und schließlich Krachts eigene Perspektive, die vordergründig mit derjenigen Rinsers kokettiert, wenn ihr Reisebuch für "nützlicher" erklärt wird als manche westliche Medienberichte (in denen gerne, wie etwa von der BBC, auch einmal über Hummerlieferungen per Helikopter spekuliert wird, die Kim Jong-Il während einer Eisenbahnreise nach Moskau empfangen haben soll).Dabei lässt Kracht keinen Zweifel an der Lenkung des Blicks, der die Neugierde jedes Besuchers in Nordkorea unterworfen wird: "Die paar tausend ausländischen Touristen und die vereinzelten ausländischen Journalisten und Geschäftsleute, die jährlich nach Pjöngjang kommen dürfen, werden von einer Vielzahl von Aufsehern begleitet, beschützt und gelenkt - ihr Blick wird gesteuert -, sie sehen nichts, was ihnen nicht vom Regime gezeigt wird. Das heißt nichts anderes, als daß ihr - und dadurch unser - Sehen zensiert, maskiert, ja erneut projiziert wird". Was Rinser, wie gut 20 Jahre später Kracht, Munz und Nikol, zu sehen bekommen und worüber sie allein hatte urteilen können, das waren, so Kracht: "Wohnungen", "Fabriken", "Spitale", "Gefängnisse", "Arbeitslager" - alles in Anführungszeichen. Keine wirklichen Wohnungen, Fabriken, Spitale, Gefängnisse und Arbeitslager, sondern die Simulationen, die das Regime seinen Besuchern davon vorführt.Das größte Kunstwerk der Menschheit - mit RissenDieses bis ins Letzte hinein Inszenierte der nordkoreanischen Wirklichkeit, wie sie dem ausländischen Besucher dargeboten wird, ist es, die Kracht vom "größte[n] Kunstwerk ... der Menschheit" sprechen lässt. Es ist allerdings auch ihr "letztes großes, jetzt schon museales, manischstes Projekt". Wer Nordkorea besucht, wer sich darauf einlässt, in dieses Kunstwerk einzutreten, der wird, ob er will oder nicht, Teil davon. Ideologisch, wenn er wie Rinser der Inszenierung verfällt. Zumindest aber medial, wenn er, wie Kracht, Munz und Nikol, ein Filmset besucht und sich abends im Hotelzimmer selbst bei diesem Besuch in einem Bericht des Staatsfernsehens sieht.Nur durch kleine Risse in der präsentierten Oberfläche wird das Inszenatorische sichtbar und das manische Kunstwerk en abyme gestürzt. Das Kabel an der Filmkamera, das nicht eingestöpselt ist, verrät, dass am Filmset nicht gedreht wird. Die verkehrt herum gelesene Zeitung gibt den Soldaten im U-Bahnhof als Statisten zu erkennen. Unter den Bildern des Bandes, die die Oberfläche präsentieren, finden sich einige, die solche Risse einfangen: leere Straßen, auf denen Politessen emsig den nicht vorhandenen Verkehr regeln, zeigen den Willen zur perfekten Szenerie und sein Misslingen. Wenn sich allerdings auf einem der Bilder eine Coca Cola-Dose in die Juche-Ideologie - die nordkoreanische Staatsdoktrin, die auf ökonomische Autarkie und die völlige Abschottung gegenüber dem Ausland abzielt - einschleicht, dann ist dahinter die Hand der Autoren zu vermuten. So schärfen Kracht, Munz und Nikol durch gezielte Störungen der Inszenierung den Blick für die feinen Risse, auf die es ankommt. Denn es sind die minimalen Störmomente im Kunstwerk des "Geliebten Führers", die notwendig sind, um die Logik und die unheimliche Faszination der ästhetischen Konsequenz zu begreifen, ohne ihr wie Rinser ideologisch zu erliegen. In Kim Jong-Ils Über die Filmkunst heißt es: "Je mehr sich die Menschen aus den Fesseln der Natur und Gesellschaft lösen, je freier sind sie von der täglichen Sorge um Kleider, Nahrung und Wohnung, desto höher werden ihre Anforderungen an Literatur und Kunst. Ein Leben ohne Literatur und Kunst können wir uns nicht mehr vorstellen". Hat man das Vorwort von Kracht gelesen und betrachtet die Bilder von Munz und Nikol, begreift man, dass das nicht nur der verheerenden Unterversorgung der Bevölkerung Hohn spricht. Es liegt darin eine Drohung: die Androhung des totalen "Kunstwerks" - ohne Risse. Wer in Nordkorea dieses Kunstwerk stört oder nicht an die Kunst des "Geliebten Führers" glaubt, für den kann dies, darauf weist Kracht hin, das Lager bedeuten. Kracht schreibt "Gulag", mit Anführungszeichen. Auch das Lager, wissen wir seit Krachts Roman 1979 (Freitag 50/2001), liegt nicht außerhalb der Postmoderne. Der Rest ist Agamben.Christian Kracht, Eva Munz u. Lukas Nikol Die totale Erinnerung. Kim Jong-Ils Nordkorea. Rogner Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin 2006, 136 S., 108 farb. Abb., 24,90 EUR
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