Der Glanz des Märtyrers

Im Gespräch Der irakische Dichter Hamid Jassim über die Schlacht um Nadschaf und den Kampf der Kulturen in seinem Land

FREITAG: Warum haben sich US-Truppen und Übergangsregierung dazu entschlossen, in Nadschaf so kompromisslos gegen die Milizen des Muqtada al-Sadr vorzugehen?
HAMID JASSIM: Die Regierung, aber auch viele Parteien, die an der Nationalkonferenz in Bagdad teilnahmen, haben sich nach meinem Eindruck um eine politische Lösung bemüht, sind aber an Muqtada al-Sadrs Hartnäckigkeit gescheitert. Außerdem fühlen sich die Menschen in Nadschaf - das weiß ich von vielen dort - als Geiseln einer Ausnahmesituation, die beendet werden soll. Was in Nadschaf geschehen ist und weiter geschieht, wird schwerwiegende Folgen haben - nicht nur im Irak, sondern in der islamischen Welt überhaupt, vorrangig im Iran.

Nadschaf erscheint wie ein Symbol für eine immer hoffnungslosere Situation im Irak. Gibt es aus Ihrer Sicht irgendeinen Ausweg, der sich in absehbarer Zeit als gangbar erweisen könnte?
Zunächst einmal steht für mich außer Frage, dass sich Sicherheit und Stabilität nicht allein mit militärischen Mitteln erreichen lassen. Aber: Nur wenn das Land wieder einigermaßen sicher und stabil ist, lohnt es sich, an Wiederaufbau zu denken. Nur dann können Millionen Iraker wieder eine Existenz sichernde Arbeit finden. Nur dann kann es wieder öffentliche und kommunale Dienstleistungen geben - nur dann sind im Übrigen auch Wahlen möglich.

Genau das hat die Regierung von Premier Allawi am 28. Juni, als sie antrat, auch versprochen, aber bisher wenig erreicht.
Allawi hat es schwer angesichts der militärischen Eskalation in einigen Landesteilen, vorrangig im Süden. Er hat es leider auch mit der wenig konstruktiven Rolle einiger Nachbarländer zu tun, die offenbar nicht verstehen wollen, wie sehr ein stabilisierter Irak auch in ihrem Interesse liegt.

Sie meinen Syrien und Iran?
Ja, die Regierungen in Damaskus und Teheran sollten sich an die Zusicherung halten, ihre Grenzen nicht für islamistische Freischärler zu öffnen, die in den Irak exportiert werden, um dort ihre Glaubensbrüder und die Heiligen Stätten zu verteidigen. Es sind Kämpfer der Mahdi-Milizen in Nadschaf gefangen genommen worden, die mit iranischen Waffen ausgerüstet waren. Iran und Syrien können uns am besten helfen, indem sie auf jede Einmischung verzichten. Allerdings gibt es auch im Irak selbst Gruppierungen - und damit meine ich nicht nur die Sadristen - die zu keiner konstruktiven Position fähig sind, weil sie glauben, die einzig legitimen Vertreter des irakischen Volkes zu sein, und deshalb jüngst die Nationalkonferenz blockiert haben.

An wen denken Sie konkret?
Ich meine zum Beispiel an die sunnitische Gesellschaft der muslimischen Gelehrten, die Ulama, die besonders für die geistliche Führung des Widerstandes im westlichen Teil des Irak Verantwortung trägt. Ich denke an ehemalige Oppositionelle, die Gegner Saddams waren, heute aber die Politik wie ein Geschäft betreiben, bei dem ihre Ambitionen absolute Priorität haben. Natürlich beziehe ich hier auch Muqtada al-Sadr ein, der unumwunden erklärt, allein berufen zu sein, im Namen des Volkes zu handeln. Wer in einer Situation, wie wir sie jetzt erleben, Anspruch auf Hegemonie erhebt, der verhindert jede Rückkehr zur Normalität.

Inwieweit gibt es für das, was Sie zuletzt gesagt haben, so etwas wie ein öffentliches Bewusstsein im Irak?
Das ist leider die tiefe Tragik, dass die Iraker, die doch vielfach von der instabilen Lage existenziell bedroht sind, nicht dafür mobilisiert werden können, Sicherheit und Stabilität als ihre ureigene Angelegenheit zu betrachten. Sie müssten jeden Politiker und jeden islamischen Gelehrten zunächst fragen: Was tust du, damit wir wieder in normale Lebensumstände zurück finden?

Offenbar hat al-Sadr nicht an Einfluss verloren, sondern in einigen Teilen der Bevölkerung neue Anhänger gewonnen. Warum?
Er erscheint immer noch im Glanz seines Vaters, des Großayatollahs Mohammad Sadeq al-Sadr, der mit seinen beiden ältesten Söhnen 1999 vom Geheimdienst des Diktators ermordet wurde. Außerdem bedient er sich ständig der Sprache des religiösen Märtyrers - das blendet viele einfache Schiiten und erregt ihre Gemüter. Al-Sadr versteht es, in seinen Predigten die wirtschaftlichen Missstände anzuprangern, unter denen viele Iraker leiden. Das geschieht in einer Sprache, die sehr einfach, genau genommen aber vulgär ist. Und dann darf man nicht vergessen, dass er sich besonders in Nadschaf als Verteidiger der schiitischen Heiligtümer dargestellt hat, was nicht wenige Schiiten beeindruckt. Eine Folge davon ist, dass in den Häusern vieler Familien das Bild von Großayatollah al-Sistani gegen das von Muqtada al-Sadr ausgetauscht wurde.

Aber es gibt im Irak 15 Millionen Schiiten, und Sie können mir glauben, darunter sind viele, die sich fragen, ob sie mit einem solchen Führer wirklich gesegnet sind und ein Interesse daran haben sollten, dass innere Konflikte so aufflammen, wie das seit Wochen der Fall ist.

Leitet sich daraus auch der Dissens zwischen al-Sadr und dem schiitischen Establishment um Großayatollah al-Sistani ab?
Dieser Dissens ergibt sich vor allem daraus, dass al-Sistani die quietistische Haltung der Geistlichen innerhalb der Glaubensgemeinschaft verkörpert. Das bedeutet, er lehnt ein direktes Eingreifen des Klerus in das politische Alltagsgeschehen ab, steht einer Übernahme politischer Ämter durch Geistliche reserviert gegenüber und plädiert stattdessen für die religiöse Begleitung und Ermahnung. Eine Haltung, die auch von vielen laizistisch und links eingestellten Schiiten begrüßt wird. Al-Sistani sagt, Religion sollte nicht politisiert werden, aber der Staat an religiöse Gebote gebunden und gerecht sein. Dieser Gerechtigkeitsbegriff ließe sich auf die Formel bringen: Jedem, dem ein Recht zusteht, muss dieses Recht auch gewährt werden - unabhängig davon, welcher Religion, welchem Geschlecht und welcher Nationalität er angehört. Al-Sistani unterteilt die Iraker ganz bewusst nicht in Gläubige und Ungläubige. Al-Sadr dagegen folgt wie auch sein Vater der Doktrin des Ayatollah Chomeini von der Herrschaft der Religionsgelehrten und fühlt sich - obwohl er selbst gar kein Religionsgelehrter ist - dazu berufen, den Irak zu führen.

Mit anderen Worten - er will den islamischen Gottesstaat.
Und zwar in einer radikalen Form, bei der die Verbote die Gebote bei weitem übertreffen. Es kamen zum Beispiel verschleierte Frauen in die Nähe der Heiligtümer in Nadschaf, als die von den Sadristen kontrolliert wurden. Sie mussten als Pilgerinnen umkehren, weil ihre Verschleierung als nicht religiös genug empfunden wurde. Nur wenn sie sich so verschleiert hätten, wie das im Iran üblich ist, hätte man sie gewähren lassen. Ein anderes Beispiel: Es wurden in letzter Zeit wiederholt Inhaber von Geschäften erschossen, in denen alkoholische Getränke verkauft wurden, weil auch das den strengen Regeln, wie sie die Sadristen wollen, widerspricht. Auch sind die Moscheen als Basis der sadristischen Macht benutzt worden, um dort religiöse Gerichtshöfe zu errichten.

Zielt das darauf, Parallelstrukturen zu staatlichen Strukturen zu etablieren?
Zweifellos, diese Strukturen werden ständig ausgebaut. So sind von den genannten Tribunalen bisher mehr als 200 Urteile verhängt wurden. Es kam auch dazu, dass man Menschen nach islamischem Recht auspeitschen ließ, denen man vorwarf, Musikkassetten gehört oder Pornofilme gesehen zu haben.

Wie realistisch ist das Angebot an al-Sadr, seine Bewegung in eine politische Partei zu verwandeln?
Dieses Angebot gibt es seit längerem, schon der Provisorische Regierungsrat hatte es unterbreitet. Ich glaube nicht, dass er je darauf eingeht.

Weshalb nicht?
Er hat jüngst in einer Freitagspredigt seine Anhänger als unwissend und ungebildet bezeichnet und damit gedroht, sie zu verlassen und sich in seine Gebetsnische zurück zu ziehen. Das ist für mich ein Zeichen dafür, wie selbstherrlich und populistisch er agiert. Seine Bewegung lebt vom Konflikt, der Wille zum Konsens ließe sie scheitern. Das ist deshalb so gefährlich, weil al-Sadr auch dann nicht inne hält, wenn sich viele seiner Anhänger in den Kämpfen opfern. Als der Konflikt im April das erste Mal eskalierte, sind fast 2.000 Menschen umgekommen, das hat ihn nicht daran gehindert, jetzt erneut die Konfrontation zu suchen. Er weiß sehr genau, dass er seine Ziele in einer Gesellschaft verfolgt, die nicht nur jahrzehntelang unter einer Diktatur gelebt hat, sondern auch von sinnlosen Kriegen heimgesucht wurde. Menschen, die dies erfahren haben, sind anfällig für mythisches Denken und schicksalsergeben.

Nun haben wir bei alldem bisher ausgeklammert, dass vieles von dem, was die Besatzungsmacht tut, al-Sadr durchaus Recht gibt. Wenn das Land wirtschaftlich dahin siecht, wenn die Städte bombardiert werden, wenn US-Truppen in der Nähe schiitischer Heiligtümer operieren.
Die Amerikaner wie auch die Übergangsregierung stehen unter einem enormen Druck, weil sie versprochen haben, dass es Anfang 2005 allgemeine Wahlen geben soll.

Glauben Sie daran?
Wenn die Lage so bleibt, wie sie ist, sind Wahlen kaum denkbar. Voraussetzung dafür wäre, dass alle Milizen ihre Waffen niederlegen und sich am politischen Leben politisch beteiligen. Um das zu erreichen, müssten die Amerikaner die Aufständischen in Nadschaf, Falludscha oder anderswo militärisch besiegen - offenbar versuchen sie das.

Wie wollen Sie die Kräfte des Widerstandes davon überzeugen, sich allein auf die politische Sphäre zu konzentrieren, wenn in der irakischen Politik die Weichen nach wie vor von der Besatzungsmacht gestellt werden?
Es gibt schiitische Parteien, die nicht im geringsten mit den Amerikaner sympathisieren und klar sagen, dass sie weder mit dem Krieg noch dessen Folgen einverstanden sind. Aber diese Parteien nehmen eben auch zur Kenntnis, dass die Ergebnisse dieses Krieges durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates legitimiert worden sind. Sie vertreten daher die Meinung: ein Ende der Besatzung und eine Rückkehr zur Souveränität können nur mit politischen Mitteln erreicht werden, alles andere wäre irreal. Insofern war für mich der 28. Juni, als die jetzige Regierung ins Amt kam, ein großer Schritt in dieser Richtung, damit im Irak die Kultur der Gewalt nicht länger die Kultur der Politik überlagert.

Muqtada al-Sadr hingegen sieht seine Mission nicht zuerst darin, am Wiederaufbau und an der Vertreibung der Besatzer teilzunehmen, sondern den Irak so zu destabilisieren, dass ein Abzug der Besatzer in weite Ferne rückt. Denn sollten die Amerikaner jetzt verschwinden, würde das Land vollends in Chaos und Bürgerkrieg stürzen. Die Sadristen kämpfen genau genommen nicht für einen Abzug der Besatzungstruppen, sondern um die Macht.

Jüngste Analysen von US-Militärs besagen aber, die eigentliche Gefahr für den Irak seien nicht die Jihad-Kämpfer, sondern die Anhänger des gestürzten Baath-Regimes, das nach wie vor viel Rückhalt in der Bevölkerung finde?
Dass Teile der Baath-Partei wieder aktiver werden, ist unstrittig, zumal ja viele Baathisten ihre Ämter im Staatsapparat behalten haben. Aber die größte Gefahr für eine Demokratie im Irak sehe ich in den fundamentalistisch islamischen Bewegungen - ob sie nun schiitisch oder sunnitisch sind.

Das Gespräch führte Lutz Herden


Hamid Jassim

Einsamkeit

Und so gewöhnst du dich an deinen Schatten auf den alten Wegen,
Gewöhnst an den Geruch der Traurigkeit dich auf verwaisten Lippen.
Verlassen haben sie die Ufer, die Gefährten,
und zogen sich zurück in feuchte Räume
oder eine ferne Gasse.

Da bist du nun, allein, gibst den Wagen, angefüllt mit Leichen, einen Wink,
den Abenden, von Schluchzen voll,
und Bagdad, heimgesucht von Ängsten,
der Mutter, die mit Lotusblättern das Gesicht des Toten wäscht
und über einer welken Blume schließt die Hand.

Da bist du nun, allein, am Ende der Nacht,
ein Gesicht, das sehnsüchtig die Häuser absucht,
und eines, welches zwischen Bahnhof und Passanten stockt.
Die Reisenden umschließen dich mit ihrer Kälte,
und der Irak mit seinem ewigen Sarg,
und diese Zeit mit ihren öden Tagen.

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