Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, schrieb der Staatsrechtler Carl Schmitt (1888 – 1985) einst in anderen Zeiten vor fast einem Jahrhundert, als europäische Mächte und Armeen die meisten Kontinente beherrschten und sich die Vereinigten Staaten im Isolationismus sonnten. Was der konservative Theoretiker damals unter „Ausnahmezustand“ verstand, das war der ökonomisch oder politisch begründete Notfall, der danach verlangte, die Verfassung aufzuheben.
Die 9/11-Terroranschläge entsprechen dieser Definition nicht ganz. Denoch waren sie für die USA Anlass zu zwei Kriegen, von denen der erste – die Intervention in Afghanistan – kaum mehr als eine primitive Racheaktion war. Bestätigt wurde der Krieg in Afghanistan vom UN-Sicherheitsrat und von zahlreichen Nationen, die sich direkt mit Soldaten oder zumindest indirekt mit politischer Unterstützung beteiligten, um der einzigen imperialistischen – und vollständig souveränen – Nation dieser Welt beizustehen. Der „Krieg gegen den Terror“ hatte begonnen. Die Annahme des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama (s. A-Z Basiswissen "Arabische Welt"), der universale, liberale Kapitalismus habe zum „Ende der Geschichte“ geführt, erwies sich in diesem Augenblick als genauso absurd wie die Idee von der weltweiten „Friedensdividende“, wie sie einst US-Präsident George Bush senior nach dem Ende des Ost-West-Konflikts beschrieben hatte.
Schon in den neunziger Jahren begann eine ganz andere Ära – mit dem ersten Golfkrieg (1990/91) und den NATO-Angriffen auf Jugoslawien (1999). Die Terroranschläge von New York und Washington waren insofern nur ein Katalysator für Prozesse, die schon länger im Gange waren, wie auch einige Bücher aus dem Washingtoner Establishment belegen. Condoleezza Rice, damals Bushs Sicherheitsberaterin, sagte bald nach dem Angriff: „Wir sollten diese Situation nutzen, um unsere Interessen durchzusetzen.“ Und das taten die USA. Im Irak war der Preis des Krieges besonders hoch: Über eine Million Iraker wurde getötet, fünf Millionen Kinder wurden zu Waisen, zwei Millionen mussten fliehen. Die Verantwortlichen – George W. Bush, Tony Blair, Jose Maria Aznar, Silvio Berlusconi und andere – werden sich vor keinem Gericht für diese Kriegsverbrechen verantworten müssen. Siegermächte sind immun.
Tückisches Instrument
Die Antwort auf die Terroranschläge von New York und Washington – der so genannte Krieg gegen den Terror – half bei der Stabilisierung der US-Vorherrschaft und der Destabilisierung des Mittleren Ostens und Südasiens. Dem Rest der Welt, insbesondere China, Russland und dem Iran, sollte gezeigt werden, dass in Washington allein darüber entschieden wird, wann, wo und wie die USA militärisch intervenieren. Das ideologische Fundament dieser Intervention waren dabei immer „Menschenrechte“ – ein Argument, das Gegner von Militarismus und Liberalismus in die Defensive drängte und Liberale und Linke in die neu formierten „humanitären“ Allianzen zog. Der Philosoph Jürgen Habermas stellte dazu die Frage: „Steckt hinter dem Universalitätsanspruch, den wir mit den Menschenrechten verbinden, lediglich ein außergewöhnlich subtiles und tückisches Instrument der westlichen Dominanz?“ Meine Antwort wäre ein einfaches „Ja“ und ein kleiner Zusatz: Wir könnten genauso gut den Begriff „subtil“ weglassen. Die Erfahrungen in Afghanistan und Irak sprechen für sich.
Die Besetzung des Landes am Hindukusch war und ist eine Katastrophe. Sie hat zu einer korrupten Marionettenregierung geführt, zu Todesschwadronen und zivilen Opfern, deren Zahl inzwischen die der 9/11-Opfer um ein Zehnfaches überschritten haben dürfte. Nach fast zehn Jahren Besatzung erklärt US-General David Petraeus: „Man muss auch zugeben, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann. Man kämpft immer weiter. Es ist ungefähr so wie im Irak. [...] Ja, wir haben im Irak enorme Fortschritte gemacht. Aber noch immer gibt es dort schreckliche Anschläge, so müssen wir weiter wachsam sein. Man muss immer dran bleiben. Es ist die Art von Kampf, die uns das ganze Leben lang beschäftigen wird – vermutlich auch das Leben unserer Kinder.“
Wenn die Demokratie in ihren einstigen Hochburgen Nordamerika und Westeuropa fortwährend ausgehöhlt wird, was können wir dann von Afghanistan erwarten? Wir werden Zeugen eines Prozesses, den man mit gutem Recht als „Demokratismus“ bezeichnen könnte. Dessen Ergebnis ist das annehmbare Gesicht einer autoritären Herrschaft. Bereits im besetzten Irak ließ sich das in Augenschein nehmen. In Afghanistan fiel die Farce von der demokratischen Grundierung des Regimes noch extremer aus. Die Vorstellung, diese Entwicklung könnte zu Legitimität führen, ist kaum mehr als ein Wunsch, eine zynische Manipulation durch das westliche Establishment.
Afghanistans Präsident Hamid Karzai regiert einen Narko-Staat. Seine Familie hat sich an dessen Erträgen bereichert. Karzais Bruders war bis zu seiner Ermordung vor einigen Wochen der reichste Mann des Landes, der vom Drogen- und Waffenhandel genauso profitierte wie von der NATO-Präsenz, die seinen Clan an der Macht hält. Zugleich demonstrieren die Rebellen immer wieder aufs Neue, dass sie jedes Ziel nach Belieben treffen können, inzwischen sogar US-Helikopter mit Navy Seals und Geheimdienstagenten. Dies zeigt: Der Krieg der NATO ist nicht zu gewinnen.
Fügsame bekamen eine gewisse Autonomie zugebilligt
Es liegt also auf der Hand: Die vergangenen zehn Jahre waren ein verschenktes Jahrzehnt. Es hat Zehntausende unnötige Opfer gegeben, nicht nur die in den Twin Towers von New York. Und dennoch: Es ist der arabischen Welt gelungen, ein positives, ein Mut machendes Beispiel gegen diese Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu setzen. Wer einen unvoreingenommenen Blick auf den Arabischen Frühling wirft, wird feststellen, dass die Aufständischen dort Menschen sind, die bisher ihrer Stärke und Freiheit beraubt waren. Immer wieder wurde von westlichen Kommentatoren suggeriert, sie seien unfähig zur Demokratie. Das Gegenteil ist der Fall. Die Araber haben ihr Schicksal in die Hand genommen. Zum ersten Mal seit Langem geht von dort ein Signal aus, das Mut macht. Denn der Massenaufruhr in Arabien unterscheidet sich grundlegend von jener Welle der Veränderungen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Damals löste das Schwächeln der britischen und französischen Kolonialmächte Revolten aus, die den herrschenden Despotien das Rückgrat brachen. Die Freien Offiziere in Ägypten (1952) und deren Pendant in Syrien, unterstützt durch die Baath-Bewegung und nationalistische Gruppen, gehörten ebenso zu den „Umstürzlern“ wie die Kämpfer der FLN in Algerien, die ihrem Land 1962 die Unabhängigkeit erkämpften. Diese Bewegungen schufen die Grundlage für einen säkularen arabischen Nationalismus. Ja, sogar die Entstehung einer Achse Kairo-Damaskus-Bagdad-Algier, die sich gegen die einstigen Kolonialherren richten sollte, schien möglich.
Doch es zeigte sich, dass sich die Idee von einer arabischen Nation überlebt hatte. Die Spaltungen der arabischen Welt nach dem Ersten Weltkrieg und ein eng gefasster, erzwungener staatlicher Nationalismus waren zu tief im Bewusstsein der Araber verankert, als dass diese neue Bewegung am Ende Wurzeln schlagen konnte. Als Jordanien, Ägypten und Syrien im Sechs-Tage-Krieg von 1967 durch Israel geschlagen wurden, hatte der arabische Nationalismus endgültig ausgedient.
Immer stärker wirkte der Einfluss der USA und deren Unterstützung für Autokraten. Diesen wurde eine gewisse Autonomie zugebilligt, wenn sie ihre Fügsamkeit unter Beweis stellten: Präsident Sadat in Ägypten schloss Frieden mit Israel; im Irak ließ Saddam Hussein Kommunisten ermorden und marschierte 1980 gegen Iran; die syrische Baath-Partei entledigte sich ihrer linken Mitglieder und erntete stillschweigendes Wohlwollen in Washington. Schließlich half der Zusammenbruch der Sowjetunion, eine US-Vorherrschaft im Nahen Osten zu etablieren: Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten und die Scheichtümer am Golf waren nunmehr neokoloniale Staaten – Irak und Syrien blieb eine eingeschränkte Autonomie erlaubt.
Pforten der Hölle
Hätte es Israels anhaltende Unterdrückung der Palästinenser und die iranische Revolution von 1979 nicht gegeben – der US-Triumph in der Region wäre perfekt gewesen. Wo waren die arabischen Menschenmassen, als all dies in den zurückliegenden 30 Jahren geschah? Sie waren zu demoralisiert und zu verbittert, um an den Obszönitäten in ihrer Region mehr als nur passiv teilzunehmen. Ein Anführer der Muslimbruderschaft, den ich 2002 in Kairo interviewte, kündigte an: „Sollten die Amerikaner in den Irak einmarschieren, werden sich die Pforten der Hölle öffnen. Wir werden die Städte mit Protesten überschwemmen.“
Passiert ist nichts. Die Muslim-Brüder wollten sich weder mit Hosni Mubarak noch mit seinen amerikanischen Paten anlegen. Bei der Bevölkerung war es nicht nur Angst vor Unterdrückung, die lähmte. Ihr fehlte auch die Überzeugung, dass sie wirklich etwas verändern könnte. So ging sie lieber kein Risiko ein. Das schien vergleichbar mit den Millionen in Europa und Nordamerika, die Anfang 2003 zunächst gegen den Krieg im Irak protestierten, doch nach der Besetzung des Landes in Passivität zurückfielen. Auf den arabischen Straßen gab es keine Menschenmengen, als der Irak überrannt wurde oder die israelische Armee 2002 die palästinensische Stadt Jenin zerstörte oder 2006 in den Libanon einmarschierte.
Doch plötzlich veränderte sich mit dem Sieg über den tunesischen Diktator Ben Ali im Januar 2011 die Stimmung. Bald darauf fiel auchdas Regime von Mubarak in Ägypten. Massenaufstände brachten die Regierungen von Bahrain, Libyen, Jemen und Syrien in Bedrängnis. Die Saudis schlugen die Revolte in Bahrain nieder und verteidigten das brutale Regime im Jemen. In Libyen griff die NATO ein, mit dem Resultat, dass die Bevölkerung in jedem Fall der Verlierer ist. Der syrische Präsident Assad ist in seinem Land isoliert und mordet weiter, obwohl die Protestbewegung friedlich auf die Straße geht und die Menschen unbewaffnet sind.
Wirkliche Siege gibt es für den Arabischen Frühling nur wenige. Und doch ist das arabische Wiedererwachen um vieles wichtiger als die Tötung des Al-Qaida-Chefs Osama in Laden, die von den Regierungschefs Europas als Beitrag zur weltweiten Sicherheit gefeiert wird. Wer’s glaubt ...
Tariq Ali wurde 1947 im pakistanischen Lahore geboren. Er ist Schriftsteller, Historiker und Filmemacher. Nach 9/11 veröffentlichte er das Buch The Clash of Fundamentalisms. Mit seinem neuen Werk Die Nacht des goldenen Schmetterlings vollendete er gerade sein Islam-Quintett
Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort weitere Texte der Sonderausgabe verlinkt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.