Der große Störfall

Aylan Kurdi Bilder können Mitgefühl wecken und die Stimmung ändern. Doch Konsensrausch allein reicht nicht
Ausgabe 37/2015
Das Bild des ertrunkenen Aylan Kurdi ging um die Welt
Das Bild des ertrunkenen Aylan Kurdi ging um die Welt

Foto: Nilufer Demir/AFP/Getty Images

Das Foto vom drei Jahre alten Aylan Kurdi, tot angeschwemmt am Strand von Bodrum, ging letzte Woche um die Welt. Dieses Bild eines radikal subjektivierten Leidens, es zerreißt einem das Herz. Es ist jedoch kein Einzelfall. Denn solche traumatischen Kinderbilder, die mehr sagen, als zeigen, kehren in Konfliktsituationen moralischer Unübersichtlichkeit regelmäßig wieder. Das vietnamesische Mädchen im Napalm-Angriff, der verhungernde Junge, auf dessen Tod ein Geier wartet. Es gibt eine Wirkung, die man zynisch „Entlastungsreaktion“ nennen könnte, und über die man froh sein darf, ein bisschen jedenfalls: Aktuell etwa die britische Regierung, die ein wenig von ihrer Hartleibigkeit abrückt oder der ausbleibende Applaus für eine CSU, die gegen jene „humanitäre Ausnahme“ mault, die die Kanzlerin nun gestattet.

Und dann sind da natürlich auch noch die Menschen an den Bahnhöfen, die ein Fest der Barmherzigkeit veranstalten. Da ist viel Strohfeuer, gewiss, Unverbindlichkeit, auch Narzissmus von Leuten, die sich an ihrer eigenen Güte berauschen. Wie es wirklich mit den Menschenrechten der Ankömmlinge steht, wird sich weisen. Und doch hört man es hier und da: Das Opfer war nicht ganz umsonst.

Das Opfer? Man hat in jüngster Zeit, auch im Freitag, Giorgio Agambens Idee vom „homo sacer“ und seiner Wiederkehr in Gestalt des Flüchtlings aufgegriffen, um die auf den ersten Blick so irrationale Politik von Abwehr und Abschiebung zu verstehen. Der „homo sacer“ war im alten Rom der Mensch, der dazu verurteilt wurde, dass man ihn jederzeit töten, aber nicht „opfern“ durfte. Agamben sagt nun, dass sich an dieser merkwürdigen Konstruktion erst die Souveränität des Herrschers entwickelte: Souverän ist, wer töten kann, ohne zu morden, und wer das Opfer verbieten kann. Stellen wir uns vor, unser Souverän, das westliche Konglomerat von Kapital, Regierung und Medienmacht, behandele die Migranten und Flüchtlinge nach dem Modell des „homo sacer“. Die Souveränität wird dadurch erzeugt, dass man diese tötet – man denke an die Abschiebung als symbolische (manchmal direkte) Form des Tötens –, aber nicht opfern lässt. Dann ist das Bild des gestorbenen Kindes der große Störfall. Man kann es nämlich nicht auf diese Weise töten – Abschieben, Herabstufen, Einsperren, Ausschließen –, man kann es nur opfern. Auch das Bild von Aylan Kurdi sagt nun eindeutig: Dieses Kind wurde nicht getötet, sondern geopfert. Es wiederholt eine Aussage, die immer wieder das Einverständnis mit der Gewalt des Souveräns stört, das tote Kind ist das Opfer, das es nicht hätte geben dürfen. Mit diesem Tabubruch hat der Souverän entweder einen Teil sei-ner Macht oder einen Teil seiner Legitimation verloren: die Handlungsweise der reaktionären ungarischen Regierung löst in Europa nur noch Empörung aus, während die „humanistische Ausnahme“ der Kanzlerin Zustimmung findet.

Nur ein Rausch der Barmherzigkeit kann den Skandal des toten Kindes überdecken. Bewegen wir uns damit auf einen Zustand größerer Mitmenschlichkeit zu? Wohl nur, wenn aus dem Impuls der Solidarität ein kritisches Bewusstsein erwächst. Denn auch beschenkt und begrüßt hat der Flüchtling seinen Status als „homo sacer“ noch lange nicht verloren. Ihm die Rechte als Mensch, als Bürgerin und Bürger zu verschaffen, bedeutet nämlich nicht nur harte Arbeit, son-dern auch, jenseits dieses durch ein Bild mit ausgelösten Konsensrauschs, Widerspruch zu einem Souverän, der nach der Ausnahme zur Regel zurückkehren will.

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