Der Hass sitzt jetzt zu tief

Eine neue Etappe des Krieges Die russische Schriftstellerin Anna Politkovskaja über Tschetschenien und die jüngsten Selbstmordattentate - nur noch internationale Vermittlung kann wirklich helfen

Der Kaukasus-Krieg hat wohl nicht zufällig genau vier Monate vor den Wahlen zur nächsten russischen Duma eine neue Stufe erreicht. Mehr als 50 Menschen starben vor Wochenfrist bei einem Selbstmordanschlag auf ein Militärhospital in Nord-Ossetien. Erst am 5. Juli hatten in Moskau zwei Tschetscheninnen beim Attentat auf ein Rock-Festival 15 Menschen mit in den Tod gerissen. Die islamistische Guerilla signalisiert der Regierung Putin, dass es für sie in diesem Konflikt keine Regeln und Rücksichten mehr gibt - und damit auch keine Chance für einen Verhandlungsfrieden.

FREITAG: Worin sehen Sie den Auslöser der Serie von Anschlägen?
ANNA POLITKOVSKAJA: Als im Sommer 1999 der zweite Tschetschenien-Krieg begann, hatten viele Leute Hoffnung und dachten, wahrscheinlich müssen wir das jetzt durchstehen. Sie hofften, dass man die Banditen und Wahhabiten - also die islamischen Extremisten - vernichtet und das Leben danach leichter wird. Die Tschetschenen und Inguscheten haben unter ihren Wahhabiten mehr gelitten als sonst irgend jemand. Doch Ende 2001 stand es noch schlimmer um die Menschenrechte. Es begannen Säuberungen, Menschen verschwanden, am Rande tschetschenischer Dörfer fand man viele verstümmelte Leichen - die russischen Staatsanwaltschaften ermittelten nicht wirklich. Man kann sagen, 2001 brachen alle Hoffnungen zusammen. Europa hatte dazu immer eine Position der doppelten Standards. So fühlen die Tschetschenen, dass sie auf sich allein gestellt bleiben. Selbstmordattentate scheinen ihnen die einzig effektive Möglichkeit, um auf die Erniedrigung zu antworten.

Sie haben versucht, im Oktober 2002 bei der Geiselnahme im Moskauer Nordost-Musical-Theater zu vermitteln. Waren Sie überrascht, als Sie dort auf tschetschenische Selbstmordattentäterinnen trafen?
Als das Theater besetzt wurde, kannte ich bereits die Psychologie dieser Frauen, die sich für etwas rächen wollen. Man kommt nach Tschetschenien, spricht mit vielen Leuten und merkt, dass viele Frauen bereit sind, Frauenbrigaden zu bilden, weil die Männer sie nicht mehr schützen können und sie verschwundene oder verlorene Söhne rächen wollen.

Mit anderen Worten, man übernimmt Methoden der radikalen Palästinenser.
Selbstmordattentate liegen nicht in der tschetschenischen und auch nicht in der islamischen Tradition. Die Frauen im Nordost-Theater hatten noch die Hoffnung, den Krieg zu stoppen. Die Frauen, die sich jüngst während des Rockfestivals am Tuchino-Feld bei Moskau in die Luft sprengten, hatten eine andere Logik. Es ging ihnen nicht darum, den Krieg zu stoppen. Sie handelten nach der Devise: Ich füge euch so viel Schmerz zu, wie ihr mir zugefügt habt.

Wie reagiert die tschetschenische Gesellschaft auf dieses Phänomen?
Tschetschenische Männer haben diesen Frauen gegenüber eine harte Position. Sie sagen: Die Frauen erniedrigen uns mit ihren Taten. Sie demonstrieren uns, dass wir sie nicht schützen können. Auch die Mullahs sind kategorisch gegen solche Methoden. Als ich nach dem Ende der Geiselnahme im Nordost-Theater nach Tschetschenien fuhr, war ich schockiert, weil man dort von Heldinnen sprach. Ich verstand sofort, damit hatte eine neue Etappe des Krieges begonnen, und ich schrieb, dass wir eine Heroisierung nicht zulassen dürften. Dieser Krieg dauert schon zu lange, auch wenn die russische Regierung das nicht wahrhaben will. Man redet von Wahlen und einer Verfassung noch 2003, aber das steht kaum in einer Beziehung zu dem, was wirklich passiert.

Wird die Attentäterin im nordtschetschenischen Ilischjan-Jurt, die am 14. Mai 2003 in einer Menschenmenge eine Bombe zündete, weil sie den von Moskau eingesetzten tschetschenischen Übergangspräsidenten Kadyrow töten wollte, als Heldin verehrt?
Der Krieg bringt alles durcheinander. Was einem hier richtig erscheint, erscheint dort falsch.

Haben Sie Hoffnung, dass sich in der russischen Gesellschaft jetzt etwas ändert?
Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich nicht arbeiten. Im Frühjahr begann eine Bewegung der Intelligenzija gegen den Krieg - das gab es früher nicht. Insgesamt aber stellt sich unsere Gesellschaft taub, wenn es um diesen Konflikt geht. Ich weiß, wie man in Tschetschenien über diese Taubheit denkt. Man sagt, wenn ihr nicht reagiert, dann werden wir uns etwas ausdenken, damit ihr auf jeden Fall reagiert. Natürlich hoffe ich, dass es nicht zu neuen Attentaten kommt, aber wer die Realität kennt, weiß, dass man mit neuen Terrorakten rechnen muss. Man weiß nicht wo. Das Gehirn des Rächers ist sehr virtuos. Man schafft es nicht, ihn einzuholen.

Finden Sie unter den Vertretern des russischen Sicherheitsapparates Gehör?
Seit Anfang 2000 wissen Militärs, Geheimdienstleute und Staatsanwälte, dass es keinen Sieg geben wird. Sie tun dort im Kaukasus ihren Dienst, machen Karriere und verdienen Geld. Es gibt vernünftig denkende Menschen unter ihnen, sie verstehen, dass die ständigen Anti-Terror-Operationen mehr Terror evozieren, als es am Anfang gab.

1996 unterzeichneten der tschetschenische Präsident Maschadow und der russische General Alexander Lebed den Friedensvertrag von Chasawjurt. Müsste es nicht heute wieder so einen wie Lebed geben?
Der Vertrag von Chasawjurt wurde von dem Schweizer Diplomaten Tim Guldiman - er leitete damals die OSZE-Mission in Grosny - mit einer aufwändigen Reisetätigkeit vorbereitet. Das Schweizer Außenministerium und Guldiman persönlich, der derzeit als Botschafter seines Landes in Teheran tätig ist, wollen sich jetzt wieder einschalten. Ich wurde von der Regierung der Schweiz bereits um Rat gefragt. Der Hass bei den Russen und den Tschetschenen sitzt jetzt zu tief. Man spricht nicht mehr offen miteinander, deshalb kann der Krieg nur durch eine internationale Schlichtung beendet werden.

Viele Tschetschenen sprechen von einem Genozid an ihrem Volk - teilen Sie diese These?
Ja, ich habe mit sehr vielen Vertretern der OSZE, des Europarats, der EU und der NATO diskutiert. Man hat mir gesagt, die Kriterien für einen Genozid träfen auf Tschetschenien nicht zu. Doch wer stellt diese Kriterien auf? In Europa will man sich eben mit Präsident Putin nicht zerstreiten.

Sie reisen häufig nach Tschetschenien. Wie verarbeiten Sie die Eindrücke?
Durch meine Familie - nach dem Erlebnis Tschetschenien schätze ich sie mehr als früher. Sie sagen immer, ich solle nicht mehr fahren. Aber ich kann nicht aufhören. Ich bekomme täglich Post von dort. In jedem Brief gibt es eine Bitte, und man schildert mir, wie jeden Tag ein neues Problem auftaucht. Ich kann den Leuten nicht sagen, ich höre auf, ich bin müde.

Das Gespräch führte Ulrich Heyden

Anna Politkovskaja ...

... schrieb in den neunziger Jahren über den ersten Tschetschenien-Krieg (1994 - 1996) viel beachtete Reportagen zunächst für liberale Moskauer Blätter wie die inzwischen eingestellte Obschaja Gaseta, später die Nowaja Gaseta. Die Mutter von zwei Kindern widersetzte sich den Behinderungen russischer Militärs und berichtete als eine der wenigen auch über den zweiten Tschetschenienkrieg, der im September 1999 noch unter dem Präsidenten Jelzin (und dem gerade ins Amt gekommenen Premier Putin) begann. Eine Sammlung ihrer oft unter Lebensgefahr entstandenen Features ist in Deutschland unter dem Titel Tschetschenien - die Wahrheit über den Krieg im Frühjahr 2003 erschienen (s. auch Freitag-Literaturbeilage vom 21. 3. 2003). Im vergangenen Jahr erhielt Politkovskaja einen Preis der Internationalen Frauen-Medien-Vereinigung für Reportagen gegen Krieg und Unterdrückung. Ihr Gesicht ist durch Fernsehberichte bekannt - es kommt vor, dass auf Moskaus Straßen die Hand gegen sie erhoben wird. Dann gäbe es unter den Passanten aber auch immer jemanden, der ihr beistehe, sagt sie.

Maschadows Angebot

Der in den tschetschenischen Bergen lebende Präsident Aslan Maschadow beharrt nicht auf der völligen Unabhängigkeit Tschetscheniens. Sein in London ansässiger Vertreter Ahmed Sakajew erklärte dazu Ende 2001 während eines Treffens mit dem Putin-Beauftragten Viktor Kasanzew auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo, man könne durch Verhandlungen eine Formulierung finden, "die es Russland erlaube, von der Ganzheit des Staates" zu sprechen. Maschadow wäre bereit, bestimmte Verantwortlichkeiten - wie etwa den militärischen Schutz der russischen Südgrenze - an die Regierung in Moskau abzutreten. Präsident Putin hat sich seinerseits in einer allgemeinen Erklärung für einen Vertrag mit weitreichenden Autonomierechten für Tschetschenien ausgesprochen. Es ist aber offensichtlich, dass dieses Angebot nur solange gilt, wie in Grosny ein Tschetschene im Amt ist, der das volle Vertrauen der russischen Regierung genießt wie der jetzige Administrator der Kaukasusrepublik, Ahmed Kadyrow.

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