Der Hebel des Archimedes

50 Jahre kubanische Revolution Historisches Bewusstsein und Sehnsucht nach Normalität

Er wollte kein fahrlässiger Prophet sein, sondern vorsichtiger Realist bleiben. Als Präsident Raul Castro zur Revolutionsfeier am 1. Januar in Santiago auf die Beziehungen mit den USA zu sprechen kam, überwog die Skepsis. Er rechne mit keinen Politikwechsel der neuen Administration, die Gräben zwischen beiden Staaten blieben tief.

Dass die kubanische Führung keinerlei Illusionen hegt, es könnte eine Wende in der amerikanischen Kuba-Politik geben, ist nach einem halben Jahrhundert der Feindschaft und Blockade nachvollziehbar. Dennoch wird Barack Obama der erste Präsident seit 1992 sein, der den Hardlinern der kubanischen Exilgemeinde nichts schuldet. Er hat das Argument widerlegt, ein Präsidentschaftskandidat könne weder Florida gewinnen noch ins Weiße Haus einziehen, ohne die Castros nach allen Regeln der Denunziation zu verdammen. Vielleicht ist die Zeit vorbei, dass ein elitärer Zirkel von Anti-Castro-Extremisten die Kuba-Politik in Washington über Gebühr beeinflusst. Obama hat angedeutet, er sei zu einem Gespräch mit Raul Castro bereit. Schon die Offerte kommt einer Zäsur gleich, kein US-Präsident hat sich in den vergangenen 50 Jahren je dazu durchgerungen.

Was jedoch kann Obama bewirken? Das Totalembargo gegen Kuba regeln mehr als 200 Gesetze, die nur vom Kongress oder vom Weißen Haus oder von beiden gemeinsam zu annullieren wären. Vorerst sind daher allenfalls Ausnahmeregelungen denkbar, mit denen Washington Geschäftsleuten zugesteht, in der Ölförderung oder der touristischen Infrastruktur Kubas zu investieren. Doch käme der Ball erst einmal ins Rollen, könnte er nicht mehr aufzuhalten sein. Wie würde Kuba einen "Wandel durch Annäherung" verkraften?

Sozialpolitisch hat die Revolution den Inselstaat vorangebracht, im Vergleich mit allen anderen Ländern Lateinamerikas schneiden das Bildungs- und Gesundheitswesen - trotz der Einbrüche, die es in der "Spezialperiode" nach 1990/91 gab - noch immer vorzüglich ab. Die Kindersterblichkeit liegt niedriger als in den USA, andererseits bleibt die tägliche Versorgung unzureichend, ist die Spaltung der Gesellschaft in eine National-Peso- und Devisen-Peso-Community eine Zeitbombe.

Der Jubel war groß, als Fidel Castro am 1. Januar 1959 über Radio Rebelde verkündete, die "Tyrannei ist gestürzt", und Kubas Revolution bald zum Leuchtturm für die Unterdrückten in Lateinamerika, der III. Welt überhaupt, wurde. Zwangsläufig geriet sie in den Sog des Kalten Krieges und im Ost-West-Konflikt an die Seite der Sowjetunion. Auch deshalb konnte die Karibik-Republik unter Führung der Castros dem großen Erzfeind im Norden 50 Jahre lang widerstehen, trotz aller Mordanschläge, Sabotage und Interventionsversuche.

Wer sich in die politische Verantwortung für eine wirklich andere Gesellschaft begibt, nicht eine im Café Einstein oder Crossover-Seminar herbei fantasierte, der kann darin umkommen. Das galt und gilt für Kuba allemal, dieses Erbe bleibt Verdienst und Vermächtnis zugleich, was künftig auch immer geschehen mag. Für Fidel Castro waren die Formeln Patria o muerte und Socialismo o muerte so alternativlos gemeint, wie sie klangen. Ob dem eine Mehrheit der Kubaner weiter folgt, wird sich zeigen.

Mit revolutionärem Ethos allein lässt sich nur schwer überleben, weiß die Führung in Havanna nicht erst seit den neunziger Jahren, in denen Kuba mit existenzieller Not dafür büßen musste, dass es die Sowjetunion nicht mehr gab. Über Nacht entfiel jede Alimentierung der kubanischen Ökonomie, die darauf nicht vorbereitet war. Auf Schockstarre folgte der freie Fall, der sich nur langsam bremsen ließ - die Kubaner ertrugen in dieser Zeit enorme Entbehrungen.

Der in Havanna lebende Schriftsteller Leonardo Padura lässt in seinem 2005 veröffentlichten Roman Der Nebel von gestern eine seiner Figuren über das "historische Bewusstsein" der Kubaner sagen: "Martí wollte von hier aus die Welt ins Gleichgewicht bringen, die ganze Welt. Als hätte er den verdammten Hebel des Archimedes in Händen gehalten! Deswegen sind wir so verdammt historisch geworden; wir halten uns nicht nur für die Besten, wir sind es sogar manchmal auch. Und die Konsequenzen sehen wir ja ..."

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