Wissen Bloße Einbildung führt zu erstaunlichen Heilerfolgen. Andererseits dürfen Ärzte ihre Patienten nicht belügen. Wie lässt sich der "Placebo-Effekt" nutzbar machen?
Man schrieb das Jahr 1784, als in Paris ein Komitee gelehrter Köpfe zusammentraf: Es sollte die rätselhaften Heilungserfolge des deutschen Arztes Franz Anton Mesmer unter die Lupe nehmen. Unter dessen begnadeter Hand ließen sich die Damen der feinen Gesellschaft reihenweise kurieren. Doch das Verdikt fiel vernichtend aus. Ein „magnetisches Fluidum“, wie vom mutmaßlichen Wunderheiler postuliert, gebe es nicht, der heilende Effekt sei reine Einbildung.
Mehr als zwei Jahrhunderte später, scheint die Wissenschaft Mesmer zumindest in einer Hinsicht Recht zu geben. Suggestion, Einbildung und Glauben können durchaus kleinere bis größere medizinische Wunder vollbringen. Verantwortlich hierfür ist der „Placebo-Effekt“: Davon sprich
von spricht man, wenn eine medizinisch scheinbar nutzlose Therapie bei Kranken dennoch eine Besserung hervorruft. Im engeren Sinne sind Placebos (Lateinisch „Ich werde gefallen“) wirkstofffreie Pillen, Salben oder Injektionen, die beim Patienten ähnlich wirken wie die echte Arznei.Desinformation vom ArztScheinmedikamente funktionieren längst nicht nur dort, wo eine Krankheit eingebildet ist. Auch wenn handfeste organische Ursachen vorliegen, können sie helfen: „Placebos heilen nicht“, sagt Paul Enck von der Universitätsklinik Tübingen, „sie bessern aber die Symptome.“ Sie wirken besonders gut bei Krankheiten mit starken Symptomen wie zum Beispiel Schmerzen oder Depressionen, Allergien oder Angina Pectoris. Auch bei Reizdarm oder Parkinson kann die Null-Dosis Beschwerden lindern.Mittlerweile haben die Forscher interessante Details zur Psychologie des Placebo-Effekts in Erfahrung gebracht: So wirken etwa Kapseln besser als Tabletten, Spritzen besser als oral eingenommene Arzneien. Grüne und blaue Pillen wirken eher beruhigend, während weiße Tabletten eher Schmerzen lindern. Rote Placebos stimulieren, gelbe eignen sich eher dazu, Depressionen zu dämpfen. Teure Präparate wirken besser als billige, und – man staune – simulierte Operationen besser als Pillen. Auch die bei Medikamenten üblichen Nebenwirkungen bleiben bei Placebos nicht aus.Den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Medizin scheinen Placebos auf den ersten Blick Hohn zu sprechen: Dass eine Zuckerpille oder eine Kochsalzspritze ähnlich wirken soll wie ein teures Präparat aus dem Pharmalabor, klingt bestenfalls wie ein schlechter Witz. Schlimmstenfalls rückt es den Arzt gar in gefährliche Nähe zu Quacksalbern und Wunderheilern.Die Unsicherheit unter Ärzten ist dementsprechend groß. Wie eine Studie aus der Schweiz jetzt ergab, setzen dort zwar viele Ärzte Placebos und Placebo-Behandlungen ein. Zugleich herrschte unter den befragten Medizinern große Ungewissheit darüber, wie die Scheinbehandlungen überhaupt zu rechtfertigen seien. Etwa ein Drittel gab an, nicht zu wissen, ob der Placebo-Einsatz juristisch vertretbar sei.Unter der Hand sind Placebos nicht nur in Schweizer Kliniken und Arztpraxen durchaus üblich: Eine anonyme Umfrage unter Rheumatologen und Internisten in den USA ergab, dass etwa die Hälfte der Mediziner gelegentlich Medikamente verabreicht, die sie selbst für unwirksam hält. Neben echten Placebos schreiben sie gerne so genannte Pseudoplacebos auf den Rezeptblock, Substanzen also, die einen für die jeweilige Erkrankung wirkungslosen Wirkstoff enthalten. Dazu gehören etwa Vitaminpillen oder Antibiotika bei Virusinfektionen.Auch in Deutschland greifen Ärzte zur Null-Dosis: Bei einer Umfrage an der Medizinischen Hochschule Hannover gaben Dreiviertel der befragten Ärzte und Krankenpfleger an, vor allem bei Schmerzen oder Schlaflosigkeit bisweilen Placebos zu verabreichen.Und doch liegt das Potential der Placebo-Wirkung weitgehend brach. Ärzte stehen vor einem Dilemma: Einerseits ist das wundersame Wirkprinzip, das letztlich auf Bluff beruht, nicht von der Hand zu weisen. Andererseits sind die Mediziner verpflichtet, ihre Patienten wahrheitsgetreu über die Therapie aufzuklären. „Das Verabreichen eines Placebos ohne die Einwilligung des Patienten ist eine Täuschung und ethisch völlig inakzeptabel“, betont Enck.Doch der Placebo-Effekt ließe sich auch nutzbar machen, ohne ethische Grenzen zu überschreiten: „Zum Beispiel ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient bei der Heilung enorm wichtig“, erläutert der Psychologe Manfred Schedlowski vom Universitätsklinikum in Essen: „Ärztliche Zuwendung kann selbst wie ein Placebo wirken.“Der Harvard-Mediziner Ted Kaptchuk demonstrierte das: Er teilte Patienten mit Reizdarm-Syndrom in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe kam auf eine Warteliste. An den Patienten der zweiten Gruppe führten Ärzte mit speziellen Nadeln eine Scheinakupunktur durch. Auch bei der dritten Gruppe wurde eine Akupunktur vorgetäuscht, doch diesmal erfuhren die Patienten besondere Zuwendung durch den Arzt: Der Therapieffekt war bei dieser Gruppe am besten. Am geringsten war er bei jenen Patienten, die nur auf die Warteliste gesetzt worden waren.Für ausgiebige Kommunikation fehlt in den meisten Arztpraxen indes die Zeit. Viele Patienten wandern frustriert zu alternativen Therapien wie Homöopathie oder Akupunktur ab. Dass Heileffekte hier womöglich hauptsächlich auf Placebo-Wirkung beruhen, wie jüngst von zwei Buchautoren behauptet, bestätigt nur, woran die Schulmedizin krankt: „Wir verschenken einen Teil der Wirksamkeit von Medikamenten“, kritisiert Schedlowski.Risiken und NebenwirkungenDenn Neurologen können heute mit bildgebenden Verfahren nachweisen, dass Placebos dieselben Abläufe auslösen wie „echte“ Medikamente: „Es gibt messbare Veränderungen im Gehirn“, erklärt Schedlowski. Eine große Rolle spielt dabei das Belohnungszentrum, das für Lustempfindungen aller Art zuständig ist. Placebos können dort das Glückshormon Dopamin freisetzen.Bei Hoffnung auf Linderung schüttet das Gehirn auch körpereigene Opiate aus. Diese Schmerzstiller binden an Rezeptoren im Nervensystem und verhindern damit die Wahrnehmung von Schmerz. Hirnforscher machten die Probe aufs Exempel: Sie gaben Testpersonen bei Schmerz-Experimenten ein Medikament, das die Opiat-Auschüttung blockiert. Der Placebo-Effekt wurde schwächer, gleichzeitig verringerten sich jene Hirnaktivitäten, die sonst die Schmerzen lindern.Enck und seine Kollegen haben unter den chemischen Botenstoffen noch einen weiteren Kandidaten ausgemacht, der vermutlich die Placebo-Antwort vermittelt: Oxytocin, ein Hormon, das bei Frauen eine zentrale Rolle bei Schwangerschaft und Geburt spielt. Das so genannte Vertrauenshormon könnte dafür verantwortlich sein, dass Frauen und Männern unterschiedlich auf Placebos ansprechen.„Männer lassen sich eher durch Suggestion beeinflussen, wenn etwa der Arzt beim Patienten bestimmte Erwartungen schürt“, erklärt Enck. „Frauen sind leichter konditionierbar“. Will heißen: Das weibliche Geschlecht lässt sich eher durch Erfahrungen leiten.Enck konnte das beweisen: Er setzte Probanden in einen Drehstuhl und verabreichte ihnen, bevor sich der Stuhl in Bewegung setzte, eine seltsam schmeckende Substanz. Dabei zeigte sich, dass vor allem Männern schnell übel wird, wenn man sie glauben lässt, die eingenommene Tablette sei schädlich - ein klassisches Beispiel für den so genannten „Nocebo-Effekt“, des Placebos üblen Gegenspieler.In einem zweiten Versuch erfuhren die Testpersonen nichts über die angebliche Wirkung des Mittels: Sie „lernten“ aber mit der Zeit, dass Übelkeit und Geschmack zusammengehören, die Übelkeit verschlimmerte sich. Für diese Art unbewusster Beeinflussung sind Frauen eher zugänglich als Männer, sagt Enck.Man spricht dabei von „Konditionierung“, ein Lernprozess, wie ihn Iwan Pawlow am Hund vorführte: Ein Vierbeiner bekommt sein Futter regelmäßig, nachdem ein Glöckchen ertönt. Nach einer „Trainigszeit“ genügt schon der Klingellaut, um beim hungrigen Tier den erwartungsfrohen Speichelfluss zu provozieren.Auf gleich Weise lässt sich auch das Immunsystem „schulen“, berichtete Schedlowski jüngst in der online-Ausgabe des Fachmagazins Brain, Behavior, and Immunity. Verabreicht man etwa einem Allergiker über mehrere Tage einen Drink zusammen mit einem Antihistaminikum, lernt der Körper schon bald, das Getränk mit einer Linderung der Symptome zu assoziieren. Wird dem Patienten nach einer Testpause dasselbe Getränk zusammen mit einem Placebo verabreicht, bessern sich die Beschwerden wie zuvor unter Einfluss des Medikaments.Blindtest gegen McKinsey„Das Fernziel ist, die Konditionierung im klinischen Alltag einzusetzen, um die Wirksamkeit von Pharmaka zu maximieren“, erklärt Schedlowski. „Das wäre ethisch vertretbar, weil der Patient ja über die Therapie aufgeklärt wird.“ Der Nutzen für die Patienten liegt auf der Hand: Medikamente ließen sich niedriger dosieren, zugleich Nebenwirkungen reduzieren.Für die Pharmaindustrie hat der Placebo-Effekt eine kostspielige Kehrseite: er erschwert die Zulassung neuer Medikamente. Diese werden üblicherweise in sogenannten Doppelblindstudien gegen Placebos getestet. Doppelblind deshalb, weil weder Arzt noch der Patient wissen, ob das echte Medikament oder ein Scheinpräparat zum Einsatz kommt. Doch genau an dieser Hürde scheitern einer McKinsey-Analyse zufolge viele neue Wirkstoffkandidaten: Gut die Hälfte aller „Sitzenbleiber“ fallen in der Spätphase von klinischen Tests nur deshalb durch, weil sie nicht wirksamer sind als die Blanko-Pille.Während bei manchen Erkrankungen die Ansprechrate auf Placebos in den letzten Jahren sank, ist sie vor allem bei Antidepressiva deutlich gestiegen. Die US-amerikanische Firma Merck Co musste vor wenigen Jahren die Entwicklung ihrer Glückspille MK-869 stoppen, weil in den klinischen Tests eine identisch aussehende Leerpille den gleichen Effekt erzielte. Selbst bereits etablierte Medikamente halten dem Vergleich mit Placebos nicht immer stand: Hohe Wellen schlug letztes Jahr eine Analyse, wonach so genannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), zu denen etwa der US-Kassenschlager Prozac gehört, kaum wirkungsvoller sein sollen als Placebos.Wie ein Medikament im Test abschneidet, hängt indes massiv davon ab, wie eine Studie angelegt ist: Einen Einfluss auf die Ergebnisse haben etwa die Patientenrekrutierung, die Schwere der Erkrankung oder das Land, in dem die Studie stattfindet.Der Schlüssel zur Markteinführung eines neuen Wirkstoffs liegt in der Auswahl der Probanden: „Die Pharmaunternehmen sind natürlich daran interessiert, so genannte Placebo-Nonresponder zu identifizieren und gezielt in ihre klinische Studien einzubinden, weil dadurch der Placebo-Effekt signifikant verringert wird“, sagt Schedlowski.Das dürfte schwierig werden: Bis heute weiß man kaum etwas darüber, warum manche Menschen besser auf Placebos reagieren als andere. Offenbar spielen kulturelle Unterschiede eine Rolle, wenn der Körper seine „innere Apotheke“ aktiviert: Der Anthropologe Daniel Moerman fand vor Jahren heraus, dass an Magengeschwüren erkrankte Deutsche besser auf Placebos ansprechen als andere Nationalitäten. Bei hohem Blutdruck reagieren sie indes vergleichsweise schwach auf Leerpräparate.Auch das Erbgut dürfte im Spiel sein: So konnten Hirnforscher an der University of California in Los Angeles zeigen, dass bestimmte Gene für die Belohnungseffekte bei der Placebowirkung im Gehirn zuständig sind. Und doch lassen sich typische Persönlichkeitsmerkmale beim Placebo-Effekt nicht ausmachen: „Jeder ist in gewisser Weise ein Placebo-Responder“, sagt Enck, „Man muss nur seine schwache Stelle finden.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.