Die mit Vicente Fox keineswegs verfeindete Tageszeitung Milenio präsentierte Ende November eine aufschlussreiche Kalkulation: Sollten alle von Mexikos neuem Präsidenten eingegangenen Wahlversprechen eingelöst werden, müssten exakt 225.606 Millionen Dollar aufgebracht werden - etwa das Siebenfache der Devisenreserven der Banco de Mexico. Luis Ernesto Derbez und Eduardo Sojo - die wohl einflussreichsten Wirtschaftsberater von Fox - warnen daher nachdrücklich vor der Annahme, es könne einen rapiden Aufschwung geben. Dazu wären tiefgreifende Reformen der sozioökonomischen Strukturen Mexikos geboten - ohne parlamentarische Mehrheit undenkbar. Prompt werden irreale Erwartungen an den "Hoffnungsträger" Fox mit der Ankündigung kompensiert: Es werde eine "Wahrheitskommission" geben, um mafiotische Gepflogenheiten - vor allem die korrupte Günstlingswirtschaft - der Vorgängerregierungen des PRI (Partido Revolucionario Institucional) aufzuklären sowie die subversiven Gebaren von noch aktiven PRI-Seilschaften ans Licht zu zerren. Bekanntlich wurde Vicente Fox besonders deshalb gewählt, weil eine Mehrheit der Mexikaner des abgewirtschafteten PRI-Regimes überdrüssig war.
Unter diesen Umständen leidet Mexikos bisherige Machtelite unter Endzeitstimmung - überall kursiert die Befürchtung, die Administration werde vollends demontiert. Wer bis jetzt noch dazu gehört, pflegt den lange vernachlässigten Brauch des "politischen Frühstücks". Das bedeutet, zwei tatsächlich oder vermeintlich bedeutende Männer treffen sich vor Beginn ihres beruflichen Tagwerkes, um Gerüchte auszutauschen und verbleibende Aufstiegschancen unter der ab 1. Dezember waltenden Exekutive auszuloten. Man versichert sich bei dieser Gelegenheit wechselseitiger Loyalität für den Fall, dass bei einem von beiden die Karriere ohne Blessuren davon kommt.
Wenn mit Vincente Fox erstmals seit 71 Jahren ein Präsident, der nicht aus den Reihen des PRI kommt, sein Amt antritt, geht damit auch die Bildung einer Regierung einher, die bis ins zweite und dritte Glied hinein - vom Vizestaatssekretär bis hin zum Berater - ein Zeichen der Erneuerung und des Aufbruchs aussenden muss. Während der zurückliegenden sieben Jahrzehnte waren lukrative Pfründe vorzugsweise denen vorbehalten, die zur rechten Zeit den richtigen Instinkt bewiesen und nicht auf den PRI schlechthin, sondern die gerade dominierende Seilschaft innerhalb der Partei abonniert waren. Jetzt steht dieser Karriere-Markt nahezu jedem offen, der bereit ist, die abgewählten Kaziken mit Distanz zu strafen. Dabei befinden sich nicht allein die "Amigos de Fox" aus dem Umfeld der Partido de Acción Nacional (PAN) auf dem Sprung, sondern Aspiranten aller Couleur, die eines wissen: Mexikos neuer Staatschef verfügt in beiden Kammern des Parlaments über keine Mehrheit. Im Senat liegt der PRI dank des Wahlsystems trotz eines geringeren Stimmenanteils mit 58 Sitzen sogar noch vor den 53 Mandaten des PAN, während der links von der Mitte angesiedelte Partido de la Revolución Democrática (PRD) des gescheiterten Präsidentenbewerbers Cuauhtémoc Cárdenas 17 Senatoren stellt. In der Deputiertenkammer ergibt sich folgende Rangfolge: PAN - 224 Sitze, PRI - 208, PRD - 68. Es kommt hinzu, dass der PRI weiter in den meisten der 31 Bundesstaaten sowie der PRD im Bundesdistrikt - also der Hauptstadt - die Exekutive stellen. Will die von Fox eingesetzte Bundesregierung also nicht im luftleeren Raum agieren, muss sie legislativen Geleitschutz im Oppositionslager rekrutieren. Und dies schafft man im Lande des tief verwurzelten Kazikentums voraussichtlich auch weiterhin nur, indem die richtigen Leute mit der richtigen Gefolgschaft interessiert werden. Deshalb bemühte sich Fox gleich nach seinem Wahlsieg am 2. Juli, zumindest den PRD für eine Teilnahme an der Regierung zu gewinnen. Ein Ansinnen, das von der PRD-Führung zunächst zurückgewiesen wurde. So warb Fox für sein Kabinett Politiker, die nicht den Führungen von PRI und PRD verpflichtet sind, doch gleichwohl über Einfluss im Lager der Abgeordneten beider Parteien verfügen, ein Beispiel iat der neue Außenminister Jorge Castañeda.
Francisco Paoli (PAN), der Präsident der Deputiertenkammer, versucht zwar vorderhand noch, die Suche nach parlamentarischer Durchschlagskraft auf die Frage zu reduzieren, wann die internen Flügelkämpfe zwischen "Technokraten" und "Dinosauriern" des schwer angeschlagenen PRI offen ausbrechen und der sich "in zwei oder mehr Parteien" aufspaltet. Wer jedoch allzu offensichtlich auf Feuer im Gebälk des PRI hofft, übersieht schnell, dass der PAN gleichfalls vor einer Zerreißprobe steht, weil nach Jahrzehnten des vergeblichen Anrennens gegen die Zitadellen der Macht die jetzt gewonnene Präsidentschaft überaus viele Sieger kennt, die bedacht sein wollen. In seinem Kern ist der PAN eine klerikal-autoritäre Gliederung mit angedockter Turbo-Kapitalisten-Fraktion. Letztere mochte zwar tolerieren, dass Fox im Wahlkampf auch mit dem linksliberalen Lager kokettierte, doch nun - da die Machtfrage beantwortet ist - wollen die PAN-Traditionalisten zu ihrem Recht kommen. Sollte Fox da mitspielen, dürfte er bald den Teil seiner Gefolgschaft einbüßen, der sich ihm anschloss, um das ancien régime abzuschütteln.
Es erscheint ohnehin schleierhaft, mit welchen konkreten Schritten der neue Präsident das erreichen will, was sein unmittelbarer PRI-Vorgänger letztlich auch anstrebte: Ein Wirtschaftswachstum von mehr als fünf Prozent nämlich, das jährlich etwa 1,35 Millionen neue Arbeitsplätze ermöglicht - unabdingbar, solange fast die Hälfte der 100 Millionen Mexikaner unterhalb der Armutsgrenze lebt. Allein das gigantische Reich der Schattenwirtschaft "steuerlich" zu erschließen, gleicht einer Herkules-Aufgabe. Immerhin hinterlässt Vorgänger Ernesto Zedillo (PRI) ein Land, das sich nicht mehr im Teufelskreis der ansonsten im Abstand von sechs Jahren wiederkehrenden Wirtschaftskrisen befindet, sondern dank rigider neoliberaler Sanierungspolitik zu einem gewissen makroökonomischen Gleichgewicht gefunden hat. Für den scheidenden Präsidenten war das ein Indikator für die demokratische Konstitution des Landes - für jenes Fairplay also, das zum Abtritt des PRI-Systems führte.
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