Der Himmel hängt nicht voller Geigen

Bühne Das Festival Impulse, das alle zwei Jahre das Beste der freien Szene vorstellt, orientierte sich in diesem Jahr stark an politischen Fragestellungen
Ausgabe 28/2013

Es ist der klassische Morgen nach einem One-Night-Stand im Vollrausch. Marion S. steht in Slip und BH in ihrer Küche und versucht sich zu erinnern. War da ein Mann? Oder doch nicht? Sie testet die Hände der umstehenden Kollegen – kein bekanntes Grapschgefühl. Aber woher kommt das Kondom? Während Marion S. mit abgeklärtem Ton ihre Erinnerungsfetzen sortiert, rezitiert ein vierköpfiger Männerchor Werbebotschaften, Graffiti und Texte von Hinweisschildern.

Graz Alexanderplatz, aus Österreich zum Festival Impulse eingeladen, verweist schon im Titel auf sein Vorbild. Doch Franz Biberkopf ist hier weiblich und die Metropole zur Provinz geworden. Die Gruppe Theater im Bahnhof nutzt Alfred Döblins Romanstrategien und entwickelt daraus die Studie einer Frau. Marion S. driftet als Architektin mit gescheiterter Beziehung von Billigjob zu Billigjob. Sie trifft andere Frauen, erinnert sich an ihre Grundschulzeit, an Männerbekanntschaften, wandert durch die Stadt, hat einen Unfall, wird ausgenutzt – alltägliche Vorgänge, in kurzen Monologen verdichtet (Text: Pia Herzegger aufgrund von Dokumaterial) und von wechselnden Darstellerinnen vorgetragen.

Ohne Larmoyanz entsteht das eindrückliche Bild einer prekären Existenz zwischen Unabhängigkeitsstreben, Bindungslosigkeit, Alkohol, Depression und schließlich dem Freitod. Dazwischengeschaltet sind Einlagen, die ein urbanes weißes Rauschen aus Werbung, männlichen Körperposen und Ordnungssystemen heraufbeschwören, die das Leben von Marion S. grundieren.

Das Festival Impulse, das alle zwei Jahre in Köln, Düsseldorf, Bochum und Mülheim das Beste der freien Szene vorstellt und nun erstmals von Florian Malzacher geleitet wurde, orientierte sich in diesem Jahr stark an politischen Fragestellungen wie Identität und Sprache, deutsch-deutsche Sozialisierung, Grundeinkommen oder Formen des Widerstands. Yael Bartanas heftig umstrittene Performance Zwei Minuten Stillstand, die das israelische Holocaust-Gedenkritual Jom haScho’a nach Deutschland transponierte, fragte nach der Rolle der Erinnerung in beiden Ländern und den Verbindungen zu den NSU-Morden. Von zeitgenössischen Protestbewegungen handelte Der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller wie auch die Festival-Eigenproduktion Revolution Vakuum des Musikers Tamer Yiğit und der Filmemacherin Branka Prlić, die sich an einem Kommentar zur Instrumentalisierung der arabisch-türkischen Aufstände durch den Westen versuchten. Eigentlich eine spannende Fragestellung, aber allzu amateurhaft umgesetzt. Gitarren, die nach arabischen Diktatoren benannt sind, hängen von der Decke. Zwei Gitarristen entlocken ihren Instrumenten schweren Metalsound, dazwischen verwackelte Bilder vom Taksim-Platz und Dialoge über Egoismus und Gemeinschaftssinn oder über die Ratlosigkeit angesichts des türkischen Protests. Da war mehr drin.

Wie man es mit einfachen Mitteln besser macht, zeigte das Duo Schmidt & Meppelink mit Schützen, einer choreografischen Etüde über das Verhältnis von Körper und Waffe. Mit freundlichem Ton wurden Konzentrationsübungen vor und während des Schießens vermittelt oder die psychischen Störungen israelischer Soldaten aufgefächert. Alles ruhig, aber höchst eindringlich.

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