Der Irak wird verlieren

Alles und nichts .Sollte Muqtada al-Sadr den jetzigen Aufstand unbeschadet überstehen, dürfte sein Aufstieg in der schiitischen Gemeinschaft des Landes kaum aufzuhalten sein

Es sind die schiitischen Parteien, die den unberechenbaren Muqtada al-Sadr inzwischen als schwer kalkulierbare Gefahr für ihr strategisches Ziel betrachten müssen, erstmals - 80 Jahre nach Gründung des Staates - die Macht im Irak zu übernehmen. Im Unterschied dazu befindet sich die etablierte Geistlichkeit des Landes in einer komfortableren Position, da sie al-Sadr nie als religiöse Autorität anerkannt hat. Sein dürftiges Wissen in den philosophischen Weiten des islamischen Rechts verbietet es nach Meinung des hohen Klerus, ihm Entscheidungen für die Gemeinschaft der Schiiten anzuvertrauen. Was der Prediger al-Sadr bisweilen an politischen Erklärungen und Analysen während der Freitagsgebete kundtat, sorgte nicht selten für allgemeine Erheiterung weit über den "al-Sadr-Sprengel" der Stadt al-Kufa hinaus.

Doch änderte das wenig am Status al-Sadrs als Führer der Marginalisierten und Deklassierten, der den schiitischen Parteien, besonders dem Supreme Council of Islamic Revolution (SCIRI) und der Hizb al-Dawa al-Islamiya (Dawa-Partei) - beide haben Mandate im Provisorischen Regierungsrat - die Anhängerschaft streitig macht. SCIRI wurde schon im Vorjahr durch die Weigerung der US-Administration in Bagdad geschwächt, die Badr-Division, den bewaffneten Arm des SCIRI, zu legalisieren. Diese Formationen seien im Iran ausgebildet worden und daher eine Bedrohung für den neuen Irak, hieß es zur Begründung. Die Dawa-Partei ist seit Monaten in verschiedene Fraktionen zerfallen und daher außerstande, die "schiitische Straße" in der Weise zu mobilisieren wie die "Sadristen". Folglich gebricht es beiden Parteien an Macht und Einfluss, um Muqtada al-Sadr zur Räson zu bringen und sich über das Zaudern des religiösen Establishments hinweg zu setzen.

Keinem im hohen schiitischen Klerus dürfte unterdessen die destruktive Mission al-Sadrs klarer sein als Großayatollah al-Sistani, doch musste auch er sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurückziehen, als am 9. April 2003 Ayatollah Abd al-Majid al-Khoi in al-Najaf von Anhängern al-Sadrs vor dem Schrein des ersten Imam Ali ermordet wurde.

Dass al-Sadr - im Augenblick zumindest - die Autorität al-Sistanis respektiert, lässt sich der Tatsache entnehmen, dass er während des Aufstandes al-Kufa verlassen und Zuflucht in al-Najaf, der Residenz al-Sistanis, gesucht hat. Er sei gekommen, dem Großayatollah "ein befreites al-Najaf" zu schenken, ließ er verkünden. Die Vermutung liegt nahe, dass al-Sadr damit rechnet, die derzeitige Konfrontation nicht unbeschadet zu überstehen und auf die Vermittlung des Großayatollahs angewiesen zu sein. Dessen Vorschlag, Vorwürfe gegen al-Sadr wegen der Ermordung Abd al-Majid al-Khois erst nach einer Wiederherstellung irakischer Regierungsautorität am 30. Juni zu prüfen, deutet an, wie ein möglicher Kompromiss im schiitischen Lager aussehen könnte.

Ob dies in Ghom oder Teheran auf Beifall stößt, darf bezweifelt werden. Seit Wochen kursieren Hinweise in der arabischen Presse über vom Iran aus gesteuerte Operationen im Irak und die in dieser Hinsicht exponierte Rolle von Ayatollah al-Hairi sowie Ayatollah Fadllalah. Al-Hairi, der seit 1980 im Ghom residiert, war ein Schüler des 1980 im Irak hingerichteten Ayatollah Muhammad Baqir al-Sadr - einer der großen intellektuellen Führer der irakischen Schiiten. Ayatollah Fadllalah gilt seit Jahren als religiöses Oberhaupt der Hizbollah im Libanon.

Allein diese Verbindungen lassen erahnen, dass Muqtada al-Sadr nicht zuletzt als Exponent eines radikalen schiitischen Islamismus handelt. Sollte er die nächsten Tage und Wochen überleben, wird ihm zumindest unter den irakischen Schiiten eine dominante Position nicht mehr zu nehmen sein. In dem multi-konfessionellen und multi-ethnischen Irak könnte ein solcher Aufstieg zu einem Zerfall des irakischen Staates führen - bestenfalls zur Somalisierung des Landes, auch wenn die USA ihre militärische Übermacht behalten.

Der Autor ist Professor für Politik und Zeitgeschichte des Vorderen Orients an der FU Berlin und arbeitet zur Zeit als Gastdozent in Bagdad.


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