Der Begriff wird von den paschtunischen Worten Loya (Groß) und Jirga (Versammlung) hergeleitet und meint die traditionelle Große Ratsversammlung der Afghanen - ein erprobtes Instrument politischer Willensbildung, das nicht nur alle Ethnien, Stämme und Clans aufnimmt, sondern auch die gesamte soziale Hierarchie des Landes. In dieser Woche ist erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Loya Jirga zusammengetreten. Sie soll über die künftige Regierung, vor allem aber den Weg Afghanistans nach 30 Jahren Krieg entscheiden.
Stille herrscht in dem mit Teppichen dekorierten Raum, nur die Tasbihs - die moslemischen Rosenkränze - klicken leise, während sie den auf durchgesessenen Sofas und wackligen Stühlen sitzenden Männern durch die Finger gleiten. Neuank
28;nnern durch die Finger gleiten. Neuankömmlinge murmeln ein Salam aleikum, grüßen mit auf die Brust gelegter Hand in die Runde, schütteln Nachbarn die Hände. Der Mann hinter dem Tresen, auf dem sich Bündel abgegriffener Banknoten stapeln, nimmt den Hörer des klingelnden Telefons ab und legt ihn gleich wieder auf. Nichts soll die Runde stören, die wartet, dass Abdul Aziz und Sebghatullah Sanjar sprechen - beide Mitglieder der staatlichen Loya-Jirga-Kommission. Aziz und Sanjar sind - wie andere Gesandte des Gremiums auch - in den vergangenen Wochen mit Geländewagen der UNO in die entferntesten Regionen des Landes gereist, um die Loya Jirga vorzubereiten. Heute hat die Fahrt im Second-Hand-Wagen der Kommission keine zehn Minuten gedauert, sie führte nur bis an das Südufer des Kabul-Flusses, ins Herz der zertrümmerten Metropole - hier liegt das Domizil der Sarrafan, der Geldwechsler des Shahzade-Serais, der Börse von Kabul. Auch sie hat - wie es Tradition ist - Vertreter in den Großen Rat entsandt. In den tristen Ruinen der Altstadt flimmern keine Computerbildschirme, geben keine kantig-virilen Finanzhaie auf spiegelglattem Parkett ihre Handzeichen - hier wird noch gehandelt wie im Bagdad des Kalifen Harun al-Raschid und der Geldschein noch aus hart verknoteten Tüchern gewickelt. Immerhin haben inzwischen Satellitentelefone Einzug gehalten, über die Kurse in Peshawar, Kandahar oder Hamburg erfragt werden. Ansonsten bleibt den Sarrafan für ihre Geschäfte nicht mehr als ein notdürftig geflicktes Betonsilo, das Mitte der neunziger Jahre von den Raketen zerstrittener Mudshahedin getroffen wurde und in dem nirgendwo mehr ein Geländer vor dem Absturz im stets überfüllten Treppenhaus schützt. Dabei kommen die kleinen Stände ambulanter Geldwechsler in der Regel mit einem Blechhocker aus, während die Transaktionen - Dollar oder Rupien gegen Afghani - im Hocken abgewickelt werden. Sie alle wissen natürlich, wenn jemand die Atmosphäre während der Loya Jirga verderben oder bessern kann, dann sie. Auf ihrem Meeting spricht zunächst Amin Khosti, der Patron der Geldwechsler vom Shahzade-Serai. Der bärtige Paschtune mit dem Pakol, der runden Filzmütze, will nicht verhehlen, dass mit dem jetzigen Großen Rat eine "neue Ära" in Afghanistans Geschichte beginnen könne. Aber man dürfe dennoch nicht vergessen, welchem Leid der Serai ausgesetzt war. Sofort verfallen die Zuhörer in jähes Kopfnicken. Zum letzten Mal, so Khosti, sei das gewesen, als die Taleban am 13. November fluchtartig die Stadt verließen und die Nordallianz noch nicht eingezogen war, da habe mancher Broker seine gesamten Einnahmen verloren. Die 150 Sarraf-Geschäfte dienten bekanntlich als Nachttresore und die seien geplündert worden. "Das soll sich nicht wiederholen", verspricht Aziz von der Kommission, deshalb müsste die Loya Jirga als "goldene Chance" begriffen werden, um einer stabilen Regierung ein Stück näher zu kommen - gerade die brauche man doch. Die Geldwechsler hatten sich nach dem Raub vom 13. November zunächst an die UN-Mission in Kabul gewandt, später an die Übergangsregierung von Hamid Karzai. Sie dachten daran, eine Kompensation der Verluste bei Präsident Bush einzuklagen. Die Amerikaner, so argumentierte der Vorsteher Amin Khosti damals, hätten mit ihren Bomben zwar die Taleban zusammen brechen lassen, aber es versäumt, eine andere Regierung in Reserve zu haben. In diesem Vakuum konnten Marodeure ungehindert zuschlagen. Demzufolge läge die Verantwortung für die Verluste des "Shahzade-Serai" in Washington. Nun aber hat sich Khosti längst damit abgefunden, dass es keinen Regress geben wird. "Muss man nach dieser Erfahrung nicht eine Regierung verlangen, der die Rechte der Händler am Herzen liegen?" Muhammad Rezai, der die Goldschmiede im Serai vertritt, fordert nach Khostis Intervention, man solle besser selbst aktiv werden. "Warum sitzen wir voller Selbstmitleid herum, wenn sogar Ausländer in unser Land kommen, um beim Aufbau zu helfen?" fragt er und sucht Zustimmung beim anwesenden UN-Vertreter. "Ohne Entwaffnung der Pistolenträger", meint Rezai auf die Kabuler Warlord-Kultur anspielend, "wird die Loya Jirga scheitern. Sie verbreiten Angst, weil sie noch immer zuviel Macht haben." Selbst wenn die UNO Beobachter entsende, reiche das nicht aus. Rezai sagt, was viele Afghanen denken und jedem Loya-Jirga-Emissär auch unumwunden mitteilen, oft durch handgeschriebene Briefe, die Delegierten zugesteckt werden. Die fortdauernde Rivalität der Warlords gefährdet den Verlauf der Loya Jirga und den auf den Weg gebrachten Friedensprozess. In der Tat zieht Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani, der Ende 2001 Premier Karzai Platz machen musste, bereits durch die Dorfmoscheen und verkündet: "Gebt den Ungläubigen (gemeint sind die Soldaten der International Security Assistance Force/ISAF - die Red.) nicht eure Waffen - der Jihad ist noch nicht zu Ende." Sebghatullah Sanjar von der Loya-Jirga-Kommission appelliert daher an den Mut der Afghanen, die seit 1980 zweimal Interventionen getrotzt hätten, nun auch diesen "inneren Feinden" die Stirn zu bieten, auch wenn die wieder oder noch immer von übelmeinenden Nachbarn finanziert würden. Der 36-Jährige gehört zur kleinen Schar mutiger Afghanen, die im Untergrund den Taleban widerstanden und nun vom großen Sprung in eine Zeit jenseits der Kriege träumen.
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