Der Kalte Krieg hinterließ manchen Blindgänger

Globale Krisen, globale Verantwortung Der russische Präsident Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz in München

Vielen Dank, verehrte Frau Kanzlerin, für die Einladung an den Tisch der Konferenz, die Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus mehr als 40 Ländern der Welt zusammengeführt hat.

Das Format der Konferenz gibt mir die Möglichkeit, der "übertriebenen Höflichkeit" zu entgehen und mit geschliffenen, angenehmen, aber leeren diplomatischen Worthülsen sprechen zu müssen. Das Format der Konferenz erlaubt, das zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Und wenn meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau erscheinen, ärgern Sie sich bitte nicht über mich - es ist doch nur eine Konferenz. Und ich hoffe, dass nicht schon nach zwei oder drei Minuten meines Auftrittes Herr Teltschik das "Rotlicht" aufleuchten lässt.

Das System der Vereinigten Staaten hat seine Grenzen vollends überschritten

Der allumfassende, unteilbare Charakter der internationalen Sicherheit drückt sich auch in seinem Grundprinzip aus: "Die Sicherheit des Einzelnen - das ist die Sicherheit aller". Es war Franklin D. Roosevelt, der schon in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges sagte: "Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, ist er gleichzeitig überall bedroht und in Gefahr." - Diese Worte haben bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

Vor gerade einmal zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich zerbrochen - aber ihre Sicherheit garantierten die gewaltigen strategischen Potenziale zweier Supermächte. Der globale Gegensatz schob äußerst drängende ökonomische und soziale Fragen an die Peripherie der internationalen Beziehungen. Wie jeder Krieg hinterließ uns auch der Kalte Krieg - bildlich ausgedrückt - manchen "Blindgänger". Ich meine damit ideologische Stereotypen, doppelte Standards, Schablonen des Blockdenkens.

Die nach dem "Kalten Krieg" in Aussicht genommene monopolare Welt - die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns - kam nicht zustande. Denn sie ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden - sie ist es auch für den Souverän selbst, weil ihn dieses System von innen zerstört.

Eine mono- oder unipolare Welt hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Weil Demokratie bekanntermaßen Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Beachtung von Interessen und Meinungen der Minderheit. Nebenbei gesagt, lehrt man uns - Russland - ständig Demokratie. Nur die, die uns lehren, haben selbst, aus irgendeinem Grund, keine rechte Lust zu lernen.

Ich denke, dass für die heutige Welt ein monopolares Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Nicht nur, weil für eine Einzel-Führerschaft weder die militärpolitischen, noch die ökonomischen Ressourcen ausreichen, auch weil das Modell an sich unpraktikabel ist und keine sittlich-moralische Basis der modernen Zivilisation sein kann. Denn einseitige, oft nicht legitime Handlungen haben in der Welt von heute kein einziges Problem gelöst. Vielmehr waren sie Ausgangspunkt neuer menschlicher Tragödien. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. Es sterben nicht weniger Menschen bei diesen Konflikten als früher, sondern mehr. Bedeutend mehr!

Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophe Anwendung von Gewalt - militärischer Gewalt - in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann die Kräfte nicht einmal, um wenigstens einen dieser Konflikte zu lösen.

Das System der Vereinigten Staaten hat seine Grenzen in allen Sphären überschritten - und doch wird es in der Wirtschaft, der Politik und im humanitären Bereich anderen Staaten übergestülpt. Wem gefällt das schon?

Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen

Ich bin überzeugt, dass wir heute an einem Scheideweg stehen, an dem wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken sollten. Man muss ablassen von der Suche nach einer ausgeklügelten Balance der Interessen aller international handelnden Subjekte. Umso mehr, als sich gerade jetzt die internationale Landschaft so spürbar und so schnell verändert, und zwar auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen.

So ist das summierte Bruttoinlandsprodukt Indiens und Chinas hinsichtlich der paritätischen Kaufkraft schon größer als das der USA. Und das Bruttoinlandsprodukt der vier BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien und China - übersteigt das der EU. Es steht außer Zweifel: Das Wirtschaftspotenzial neuer Wachstumszentren auf der Welt schlägt unausweichlich in politischen Einfluss um und stärkt die Multipolarität.

Zugleich stellt sich die Frage: Sollen wir etwa untätig auf die verschiedenen inneren Konflikte in einzelnen Ländern starren, auf das Treiben autoritärer Regimes, auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen? Auf die Gefahren des Terrorismus? Natürlich nicht.

Haben wir die Mittel, um diesen Bedrohungen zu widerstehen? Natürlich haben wir sie.

Wir brauchen uns nur der jüngsten Geschichte zu erinnern. Haben wir nicht in unserem Land einen friedlichen Übergang zur Demokratie vollzogen? Es hat doch eine friedliche Transformation des sowjetischen Regimes stattgefunden. Und was für eines Regimes! Mit welcher Menge an Waffen, darunter Kernwaffen! Warum muss man jetzt, bei jedem beliebigen Vorkommnis bombardieren und schießen? Es kann doch nicht sein, dass es uns bei einem Verzicht auf die Androhung gegenseitiger Vernichtung an politischer Kultur und Achtung vor den Werten der Demokratie und des Rechts fehlt.

Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus, um über die Anwendung von Gewalt als des letzten Mittels zu entscheiden, nur die UN-Charta sein darf. Insofern habe ich auch nicht verstanden, was kürzlich der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat. Oder hat er sich unklar ausgedrückt? Ich habe ihn so verstanden, dass die Anwendung von Gewalt dann als legitim gilt, wenn sie auf einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert. Wenn er das tatsächlich so meint - dann haben wir verschiedene Standpunkte.

Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen. Andernfalls geraten wir nur in eine Sackgasse und es häufen sich die schweren Fehler.

Die potenzielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen ist auch mit einem Stau bei der Abrüstung verbunden. Wir haben mit den USA den Abbau unserer strategischen Kernwaffenpotenziale auf 1.700 bis 2.200 Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Russland beabsichtigt, die übernommenen Verpflichtungen streng einzuhalten. Wir hoffen, dass unsere Partner genauso transparent handeln und nicht für einen "schwarzen Tag" ein paar Hundert Sprengköpfe zurücklegen. Und wenn uns heute der neue Verteidigungsminister der USA erklärt, dass man diese überzähligen Sprengköpfe nicht in Lagern, nicht unter dem Kopfkissen und auch nicht unter der Bettdecke versteckt, dann schlage ich vor, dass sich alle erheben und stehend applaudieren. Das wäre eine sehr wichtige Erklärung.

Heute verfügen viele andere Staaten über Raketenarsenale, darunter die Volksrepublik Korea, die Republik Korea, Indien, Pakistan und Israel. Viele Staaten arbeiten an diesen Systemen und planen, sie in ihren Waffenbestand aufzunehmen. Es ist offensichtlich, dass wir unter diesen Umständen darüber nachdenken müssen, wie wir unsere Sicherheit garantieren. Aber Pläne, bestimmte Elemente von Raketenabwehrsystemen nach Europa zu verlagern, können uns nur beunruhigen. Wer braucht einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem, in diesem Fall, unausweichlichen Rüstungswettlauf? Ich bezweifle zutiefst, dass es die Europäer selbst sind.

Wir haben das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Expansion?

Raketen mit einer Reichweite zwischen 5.000 und 8.000 Kilometern, die Europa in der Tat bedrohen würden, existieren in den so genannten Problemstaaten nicht - und werden dort in absehbarer Zeit nicht existieren. Der hypothetische Abschuss einer nordkoreanischen Rakete, die Westeuropa überfliegt und nordamerikanisches Gebiet ansteuert, widerspricht offenkundig den Gesetzen der Ballistik. Wie wir in Russland sagen, wäre das so, als ob man mit der rechten Hand ans linke Ohr fasst.

Hier in Deutschland kann ich nicht anders, als den bedauernswerten Zustand des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu erwähnen. Die NATO-Staaten haben verkündet, dass sie diesen 1999 geschlossenen Vertrag solange nicht ratifizieren werden, bis Russland seine Militärkontingente aus Georgien und Moldawien abzieht. Ich kann nur sagen, unsere Armee verlässt Georgien sogar nach einem beschleunigten Zeitplan. Und in Moldawien stehen noch 1.500 Soldaten, die friedenserhaltende Maßnahmen ausführen und Waffendepots aus sowjetischen Zeiten bewachen. Aber was geschieht parallel dazu? Es zeigt sich, dass die NATO ihre Frontsoldaten an unsere Grenzen verlegt hat, während wir weiterhin strikt die Verpflichtungen des KSE-Vertrages einhalten und in keiner Weise reagieren.

Ich denke, es ist unbestreitbar: Die Erweiterung der NATO ist in keiner Weise geeignet, die Allianz zu modernisieren oder die Sicherheit Europas zu garantieren. Im Gegenteil, sie stellt eine ernsthafte Provokation dar, die das Maß gegenseitigen Vertrauens schmälert. Wir haben das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Expansion? Und was passierte mit den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes vor 16 Jahren? Nicht einmal mehr erinnern will man sich. Aber ich werde mir erlauben, diesem Publikum ins Gedächtnis zu rufen, was einst gesagt wurde. Ich möchte die Rede des NATO-Generalsekretärs, Herrn Wörner, zitieren, die er am 17. Mai 1990 in Brüssel gehalten hat. Er sagte: "Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Armee außerhalb des deutschen Gebietes zu stationieren, gibt der Sowjetunion eine stabile Sicherheitsgarantie". Wo ist diese Garantie?

Gekürzte Fassung / Zwischentitel von der Redaktion


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden