Der Kampf nach dem Gefecht

Kriegsversehrte Traumatisierungen sind der Preis, den viele Bundeswehrsoldaten für den Afghanistaneinsatz zahlen. Oft bleiben sie für lange Zeit unerträglichen Erinnerungen ausgesetzt

Die Antwort auf die Frage, ob das in Afghanistan denn wirklich ein Krieg sei, ist ein bitteres spöttisches Lachen. Beim Verlassen des Lagers, direkt hinter dem Kasernentor, habe der Krieg angefangen, sagt Toralf. Selbst die schweren Fahrzeuge seien nicht völlig sicher, wenn sie mit Raketen beschossen würden. Und das Bundeswehrlager selbst auch nicht. Mehrmals die Woche seien dort Raketen eingeschlagen.

Sein Einsatz liegt gut vier Jahre zurück. Und findet in seinem Kopf bis heute kein Ende. Es ist, als weigere sich seine Seele, die gemachten Erfahrungen wegzustecken und zur Normalität überzugehen.

Derzeit wird der 35-Jährige, der einverstanden ist, hier mit seinem Vornamen benannt zu werden, auf der psychiatrischen Station des Berliner Bundeswehrkrankenhauses behandelt. Seine Diagnose lautet Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS. Die Station ist einer der Orte, an denen die Bundeswehr ihre mit „Einsatzfolgestörungen“ aus dem Ausland zurückkehrenden Soldaten behandelt. Darunter fallen neben der PTBS auch Depressionen und Angststörungen.

Toralf ist zum vierten Mal innerhalb eines Jahres hier, 25 Wochen lang waren die letzten drei Aufenthalte insgesamt. „Intervallbehandlung“ heißt das, die Zeiten zuhause sollen die Anbindung an Familie und Alltag festigen. Mit seiner Frau ist es ein Ringen um den Fortbestand der Ehe. Der Mann, der aus Afghanistan zurückgekommen ist, ist nicht mehr derselbe, den sie geheiratet hat. „Man verändert sich schon sehr“, sagt der Berufssoldat.

Toralf trägt Jeans und T-Shirt. Er ist leicht übergewichtig, sieht deutlich älter aus, als er ist. Auf seiner Gesichtshaut glänzt Schweiß; Unruhe und Anspannung in seinem Körper sind gewaltig. In einem ruhigen Raum auf der Station erzählt er seine Geschichte. Einige Fragen werden offen bleiben. Zu bedrohlich ist die Nähe zu den ganz schlimmen Erfahrungen.

Toralf ist Anfang 20, als er 1997 bei der Bundeswehr anfängt. 2004 fliegt er das erste Mal zum Einsatz nach Afghanistan. Er merkt damals schon, dass die Zeit dort Spuren in ihm hinterlässt, die kann er aber noch beiseite schieben. 2006 folgen zwei Einsätze im Kosovo, dazwischen liegen zwei Monate Pause. Ende 2007 schickt ihn die Bundeswehr abermals an den Hindukusch. Der Einsatz dauert vier Monate und geht über Weihnachten.

Einsatzort ist das nordafghanische Kundus. Toralf, der Hauptfeldwebel ist, ist Teil der Fernmeldetruppe. Zu seinem Job gehört es, gegnerischen Funkverkehr aufzuspüren und zu stören. Es kommt auch zu Situationen, so erzählt er es etwas abstrakt, in denen er seine Waffe benutzt: „Man hat auch Gewalt angewendet, zum Selbstschutz.“ Man.

Es ist eine Zeit, in der sich deutsche Politiker noch nicht trauen, von einem Krieg zu sprechen, in den die Bundeswehr am Hindukusch verwickelt ist. Eine große Öffentlichkeit ist der Meinung, deutsche Soldaten seien in einem ethisch unbedenklichen Einsatz am Bau von Brunnen und Schulen beteiligt.

„Keine Luft mehr bekommen“

Zurück in Deutschland vermutet ein Bundeswehrarzt bei Toralf eine PTBS und rät ihm zu einer stationären Therapie. Doch Toralf lehnt ab, seine Frau ist gerade schwanger. Die Familie lenkt ihn eine Zeit lang ab. Dann nimmt sich 2010 ein Freund, mit dem er in Afghanistan war, das Leben. Vergeblich sind nun alle Versuche, weiter im Alltag klarzukommen. Panikattacken überfallen ihn, er kann nicht mehr schlafen, bekommt Asthma, so stark, „dass ich kaum noch Luft bekommen habe“. Er geht zum Arzt, im Februar 2011 wird er das erste Mal im Berliner Bundeswehrkrankenhaus aufgenommen.

Hier stabilisiert sich sein Zustand langsam. Er erhält Medikamente, die beim Schlafen helfen, Kortison gegen die Asthmaanfälle. Man bringt ihm Entspannungstechniken bei, und er lernt, sich innere – imaginierte – sichere Orte zu schaffen. Das ist die Voraussetzung, um später in der Therapie die Annäherung an die traumatischen Erlebnisse zu wagen.

Die meisten Erkenntnisse über psychische Traumatisierungen und ihre Behandlung sind erst einige Jahrzehnte alt. Einen wichtigen Schub brachte in den siebziger Jahren der Umgang mit Vietnam-Veteranen in den USA. Bis zu einer Million von ihnen litt an einer PTBS. Schon wegen der befürchteten Menge an Rentenanträgen war die Regierung unter Druck, ihnen zu helfen. 1980 fand die „posttraumatic stress disorder“ Eingang in das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Störungen.

Hirnforscher verstehen heute, dass eine außerordentlich hohe Ausschüttung von Stresshormonen beim Erleben extremer Belastungen eine Verarbeitung der Situation verhindert. Das Erlebte bleibt unverarbeitet – wie eine Art psychischer Abszess kann er jederzeit wieder hervorbrechen, ausgelöst durch einen sogenannten Trigger.

Knallende Türen treffen Toralf bis ins Mark. Schlagartig drängen sich quälende Afghanistan-Bilder auf. „Bestenfalls sind es Bilder“, sagt er, „schlimmstenfalls läuft ein ganzer Film ab“. Auch Gerüche können ihn schlagartig in den Krieg zurückversetzen. Unerträglich sei der Geruch von Grillfleisch, wenn man einmal verbranntes Menschenfleisch gerochen habe, sagt er.

Unerträgliche Erinnerung

Die Methode, mit der Therapeuten versuchen, diesen Flashbacks ihre zermürbende Kraft zu nehmen, mutet seltsam an. Sie erzielt aber gute Erfolge, deshalb arbeitet man auch im Berliner Bundeswehrkrankenhaus damit: Bei dem Verfahren namens „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) versetzt sich der Patient zunächst in das belastende Gefühl, das er etwa bei einem Granateneinschlag empfunden hat. Der Therapeut bewegt dann einen Finger hin und her, dem der Patient mit seinen Augen folgt. Durch die Augenbewegungen kommt es bestenfalls, ähnlich wie im Traum, zur Verarbeitung der quälenden Gefühle, und der Flashback wird zur erträglichen Erinnerung.

Die Bundeswehr bietet ihren Soldaten seit ein paar Jahren umfangreiche Informationen und Beratung zum Thema PTBS an. Anonyme Kontaktaufnahme per Telefon oder Email sollen helfen, Scham und Angst vor Stigmatisierung zu überwinden. 2010 nahm ein PTBS-Beauftragter seine Arbeit auf, im selben Jahr wurde in Berlin ein „Trauma-Zentrum“ eingerichtet. Viel zu spät bemängeln Kritiker, immerhin seien Bundeswehrsoldaten seit 1992 an Auslands­einsätzen beteiligt.

Kritik richtet sich auch dagegen, dass die Angebote viele nicht erreichen, die als Zeitsoldaten ihren Dienst bei der Bundeswehr bereits beendet haben. Dass eine PTBS erst Jahre nach dem traumatischen Erlebnis aufbricht, ist nicht ungewöhnlich. Die Vermutung, dass psychische Probleme, mit denen jemand dann ringt, mit einem Auslandseinsatz zu tun haben könnten, steht aber häufig erst am Ende eines langen Leidensweges. Die Selbsthilfeorganisation Deutsche Kriegsopferfürsorge (DKOF) dokumentiert auf ihrer Webseite eine Vielzahl dieser Leidensgeschichten. Es sind Geschichten von Beziehungsabbrüchen, Suchtexzessen, sozialen Abstiegen und Obdachlosigkeit.

Die Kriegsopferfürsorge weist seit längerem auf Unstimmigkeiten bei den Zahlen der PTBS-Fälle hin, die das Verteidigungsministerium regelmäßig veröffentlicht. Nach diesen Zahlen waren es im vergangenen Jahr 922 Soldaten, die sich „wegen einer einsatzbedingten PTBS haben in den Bundeswehrkrankenhäusern behandeln lassen“. 759 der Erkrankten waren demnach in Afghanistan eingesetzt. Mit diesen „neuen Höchstzahlen“ machten Anfang 2012 viele deutsche Medien Schlagzeilen. Die Zeit etwa titelte im Januar: „So viele traumatisierte Soldaten wie nie.“

Die DKOF weckte jedoch Zweifel. Denn die Zahlen des Ministeriums widersprechen erheblich den Ergebnissen der sogenannten Dunkelzifferstudie der Technischen Universität Dresden und des Bundeswehr-Trauma-Zentrums aus dem Jahr 2011. Laut der Studie erkranken zwei Prozent aller im Ausland eingesetzten Bundeswehrsoldaten an einer PTBS. Die Hälfte, ein Prozent, sucht sich professionelle Hilfe, die andere Hälfte der Fälle bleibt unerkannt. Auf dieser Grundlage rechnet die Kriegsopferfürsorge vor, dass es etwa 200 PTBS-Fälle jährlich geben müsse – und nicht über 900.

Offensichtlich als Reaktion auf die Kritik fügte das Verteidigungsministerium noch im Januar unter seiner PTBS-Zahlentabelle den Satz ein, 2011 habe es 194 „Neuerkrankungen“ an PTBS gegeben. Auf telefonische Nachfrage bei der Bundeswehr hieß es nun, bei den seit Jahren veröffentlichten Zahlen handele es sich um „Behandlungskontakte“: Ein mit einem Soldaten geführtes Beratungsgespräch fließe ebenso in die Jahreszahl ein wie eine stationäre Behandlung desselben. Die tatsächlichen PTBS-Fälle für das Jahr 2011 seien die 194. 2010 seien es 243 gewesen. Demnach wäre die Zahl also gesunken. Das allerdings scheint ebenfalls unwahrscheinlich angesichts der seit Jahren zunehmenden Härte der Afghanistaneinsätze – und der langsamen Überwindung des Tabus PTBS.

Nach seiner Zeit im Krankenhaus wird Toralf bei der Bundeswehr einen Teilzeitjob übernehmen, eine Tätigkeit „mit geringen Anforderungen“. Zu Hause hat er nach langem Suchen eine ambulante Psychotherapeutin gefunden. Bei Bedarf wird es weitere Krankenhausaufenthalte geben.

Leitende Traumatologen der Bundeswehr beziffern die Erfolgsquote der stationären Behandlungen von PTBS-Patienten in den Bundeswehrkrankenhäusern mit etwa 80 Prozent. Wer Toralf gegenüber gesessen hat, mag es kaum glauben. Bei Traumatisierungen heilt die Zeit keine Wunden. Der Weg zurück zur Normalität ist ein mühsamer Kampf. Es ist der Kampf nach dem Krieg.

Was der Krieg verändert hat: Die Bundeswehr auf dem Weg zur Einsatzarmee


Etwa 4.800 Bundeswehrsoldaten sind derzeit in der so genannten International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan 
im Einsatz. Bis zu 4.900 dürfen 
es nach dem derzeit gültigen Mandat sein. Als der Bundestag wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vor etwas mehr als zehn Jahren das erste Mandat bewilligt, sind nur 1.200 deutsche Soldaten vorgesehen. Der UN-Auftrag lautet, die vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei 
der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung zu unterstützen.


Im Herbst 2003 übernimmt die Bundeswehr sogenannte Regionale Wiederaufbauteams (PRT) in der nordafghanischen Provinz Kundus, im Jahr darauf auch das Regional Command North. Hauptquartier wird das Camp Marmal in Masar-i-Scharif. In Kabul werden die deutschen Kräfte reduziert. Zu dieser Zeit 
gilt der Norden als vergleichsweise ruhig, während im Süden und Osten des Landes ab 2005 die Lage immer unsicherer wird. Die Taliban, die nach den US-Angriffen 2001 nach Pakistan ausgewichen sind, versuchen nun, Terrain zurückzugewinnen.


Die Bundeswehr wird erstmals im Juni 2003 Ziel eines tödlichen Anschlags: Auf dem Weg zum Kabuler Flughafen zerbombt ein Selbstmordattentäter einen Bundeswehrbus. Vier deutsche Soldaten sterben, 29 weitere werden verletzt. Ab 2007 kippt die Sicherheitslage auch im deutschen Einsatzgebiet in Nord-afghanistan. Auch dort sickern Taliban-Kämpfer ein. 2009 gibt es bereits täglich Feuergefechte. Im September folgt der umstrittenste von Deutschen verantwortete An-griff: Beim Bombardement zweier Tanklaster bei Kundus sterben bis zu 142 Menschen.


Der 2009 ins Amt berufene Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht erstmals von Krieg. Die Rede ist nun auch von Gefallenen und Veteranen. Ein Ehrenmal im Bendlerblock des Verteidigungsministeriums und ein Ehrenkreuz für Tapferkeit hat bereits Guttenbergs Vorgänger Jung auf den Weg gebracht. 2011 verabschiedet der Bundestag ein Gesetz zur besseren Ver-sorgung der Kriegsheimkehrer. 
Gut 100.000 Soldateneinsätze verzeichnet die Bundeswehr inzwischen für Afghanistan 
Mehrfacheinsätze einzelner Soldaten mitgezählt. TT



Jutta Herms ist Journalistin und arbeitet in Berlin als Redakteurin beim Straßenfeger. Sie schreibt zum ersten Mal im Freitag



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