Der Kampf um das Frauenwahlrecht

Protest Am 13. Juni 1908 demonstrierten 10.000 Frauen in London für ihr Wahlrecht - und viele Männer fanden das gut. Wie dieser Auszug aus dem Archiv des "Observers" zeigt
Flagge zeigen: Studentinnen und Absolventinnen des Royals Holloway bei der Demonstration im Juni 1908
Flagge zeigen: Studentinnen und Absolventinnen des Royals Holloway bei der Demonstration im Juni 1908

Foto: Topical Press Agency/Getty Images

Ein feiner Haufen Sportsfreundinnen. Ich wünsch’ ihnen Glück!“, rief der Major eines Linienregiments, als das Ende der großen, aus etwa 10.000 Frauen bestehenden Suffragetten-Prozession gestern Abend an einem der noblen Clubs in Piccadilly vorbeizog und die Frauen schließlich mit der Menschenmenge verschmolzen.

Der Major sprach stellvertretend für London. Seine Ansichten waren diejenigen der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die sich in den Straßen drängten. Sie waren, soweit man das beurteilen konnte, mit nur vagen Vorstellungen darüber gekommen, welche Haltung sie zu den Forderungen der Frauen einnehmen würden. Es stand auf Messers Schneide. Eine falsche Bewegung seitens der Frauen hätte womöglich einen Sturm von Buh-Rufen und einen Orkan des Spotts auslösen können.

Aber es gab keine falsche Bewegung. Die Frauen marschierten mit großer Ernsthaftigkeit. Sie sahen aus, als ob sie das Stimmrecht wirklich wollten und es bekommen würden, wer immer zu ihnen auch „Nein“ sagen würde. Auf den Gesichtern der Marschierenden zeigte sich das lächelnde Bewusstsein des Triumphs, das alle potenzielle Feindseligkeit entwaffnete, die ihnen von den Rowdys in der Menge entgegengebracht wurde.

Frauen, die gewinnen wollen

Die Frauen nahmen London für sich ein. Sie versammelten sich im Stadtzentrum in der Nähe der Themse. Ständig fuhren Automobile, Pferdefuhrwerke und Droschken vor – alle brachten Frauen, die demonstrieren wollten. Beim ersten Schlag einer großen Trommel begann die Prozession und marschierte schnellen Schritts durch die engen Reihen der Zuschauer.

Das war ein kritischer Augenblick. Würde die Menge wohlgesinnt sein oder würde sie buhen? Mit einem feinen Sinn für den entschlossenen Auftritt entschieden die Frauen die Angelegenheit für sich. Sie marschierten mit großer Tatkraft und hatten die Ausstrahlung von Menschen, die gewinnen wollen. Hier und dort trafen die marschierenden Frauen auf ein Knäuel von Gegnern. Sobald diese Gruppen sich zu erkennen gaben, versammelten sich in ihrer unmittelbaren Nähe Sozialisten, die jede Spur von Rot auf den hochgehaltenen Flaggen bejubelten und sich mit Hochrufen auf die soziale Revolution in die Heiserkeit trieben.

Diese Demonstration der Frauen war etwas Neues für London. Die Menge war verblüfft, aber auch beeindruckt von der Anzahl an Frauen, die akademisches Ornat trugen. Einige schwache Witze wurden versucht, als Frauen aus den medizinischen Abteilungen vorbeizogen, aber die Ärztinnen in ihren scharlachroten Talaren und Hauben wirkten derart gleichgültig gegenüber diesen Versuchen, dass sich der Spott in Bewunderung verwandelte.

Stars und Banner

Einige eindrucksvolle und bekannte Persönlichkeiten waren zu sehen. Lady Frances Balfour etwa, die über die eine Seite ihrer Familie indirekt mit dem königlichen Blut verbunden ist und über die andere mit einer angesehenen politischen Familie. Sie forderte alle Blicke auf dem Piccadilly Circus heraus und marschierte von Charing Cross bis zur Albert Hall mit.

Das Tempo auf der Straße bestimmte Miss Emily Davies, die äußerlich etwas schwächlich wirkte, aber doch entschlossen voranschritt. Sie war eine der Frauen, die vor vielen Jahren John Stuart Mill die erste Petition für das Frauenwahlrecht präsentierten.

Aber das mit Abstand größte Aufsehen rief das Florence-Nightingale-Banner hervor. Mit Sondererlaubnis von Queen Victoria war das Wappen von Miss Nightingale mit dem magischen Wort „Crimea“ (Krim) versehen worden – ganz als ob sie ein eigenes Regiment gewesen sei. [Nightingale leitete die Pflegerinnen im Krimkrieg und gilt heute als Mitbegründerin der modernen Krankenpflege, Anmerkung der Redaktion] Uniformierte Krankenschwestern trugen dieses ehrenvolle Banner.

Die ehrwürdigen Mitglieder der Herrenclubs am Piccadilly Circus entblößten ihre Häupter in ehrfürchtiger Huldigung, sobald sie dieses noble Banner kommen sahen. Und die Menge, die Gefühle durchaus schnell erfasst, gab ihre bemühten Witzeleien auf, und die Männer entblößten ebenfalls ihre Häupter.

Als Suffragetten wurden Frauenrechtlerinnen bezeichnet, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien und den USA für das Frauenwahlrecht kämpften. Sie demonstrierten, leisteten passiven Widerstand und traten teils in den Hungerstreik. In Großbritannien gründete Emmeline Pankhurst 1903 die Woman’s Social and Political Union, die in den folgenden Jahren zur Triebfeder des Protests wurde. In den Jahren 1908 und 1909 häuften sich die Aktionen der britischen Suffragetten, die immer wieder auch Veranstaltungen der Konservativen störten.

Als 1910 eine Gesetzesinitiative scheiterte, die die Rechte der Frauen ausweiten sollte, wurden die Proteste gewalttätig. Suffragetten warfen Schaufenster ein, zündeten Landsitze an und terrorisierten öffentliche Gebäude, darunter Westminster Abbey, mit Bombenanschlägen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach die Kampagne. 1928 wurde in Großbritannien dann das Frauenwahlrecht eingeführt. Welche Bedeutung die Bewegung bis heute im Königreich hat, zeigte sich im vergangenen Sommer: Frauen, die bei der olympischen Eröffnungsfeier in London als Suffragetten verkleidet auftraten, erklärten danach, die Beschäftigung mit dem historischen Thema habe sie so politisiert, dass sie nun aktiv für mehr Gleichberechtigung kämpfen würden.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Der Text ist die leicht modernisierte und gekürzte Fassung eines Berichts, der ursprünglich am 14. Juni 1908 im "Observer" erschien. Der Autor ist unbekannt. Übersetzung: Steffen Vogel

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden