Schwester Michaela war achtzehn, als sie mitten in der Heuernte beschloss, ins Kloster zu gehen. Sie lief quer über das sonnenverbrannte Feld, drückte der Mutter die Heugabel in die Hand und erklärte ihr, sie sei berufen, die Braut Christi zu werden. Im Prinzip hatte die Mutter nichts gegen die Berufung, doch dass es während der Heuernte passierte, soll sie geärgert haben.
Als sie eingekleidet wurde, musste Schwester Michaela ihre Haare lassen, die ihr mit einer großen Schere einmal quer durchgeschnitten wurden. Und sie musste, weil das damals so üblich war, mitten in der Nacht in die kalte Kirche zum Beten. Besonders in der Faschingszeit fanden die Nonnen aus der eiskalten Kirche kaum mehr heraus: in dieser Zeit werden mehr Sünden als sonst begangen,
begangen, also musste mehr gebetet werden als sonst. Sie beteten für die Vergebung der Sünden jener, die zur gleichen Zeit dabei waren, sie zu begehen. Davon bekam Schwester Michaela eine schwere Arthritis, die ihr in die Knochen und Gelenke und überallhin fuhr. Alles an ihr war immer dabei, mehr und mehr zu verkrüppeln.Jedes Jahr zu Ostern und zu Weihnachten besuchten wir Schwester Michaela im Kloster der Eingesperrten, so nannten wir das Klarissenkloster, was auf meine Mutter zurückgeht, die das heute bestreitet. Wochen vorher meldete mein Vater uns an. Er war ihr Bruder und sie hieß Maria, als sie noch keine Schwester des Klosters war.Das Kloster lag mitten in der Stadt, doch die Klostermauer machte es so gut wie unsichtbar. In dieser Mauer gab es ein einziges Tor, gegen das wir drückten, nachdem es mit einem kurzen Surren leicht aufgesprungen war. Wir liefen quer über den Innenhof und klopften gegen ein kleineres, schwarzes Tor. Danach fanden wir uns in einem dunklen Vorraum wieder. Die kleinen Fenster in den Innenhof waren vergittert, das schmale Zimmer war durch eine dunkle Täfelung von den Räumen dahinter abgetrennt. Wir stellten uns vor zwei geschlossene Fensterflügel in der Täfelung und horchten auf jedes Geräusch, das uns meinen könnte. Manches von ihnen näherte sich uns hoffnungsvoll und verschwand wieder in den vielen Fluren, die sich dahinter verbergen mussten. Dann kam das Geräusch für uns: von der anderen Seite wurden die Flügel geöffnet, Zeichen für uns, jetzt auch die Flügel auf unserer Seite zu öffnen. Aus einer hölzernen Kabine nahm uns eine Nonne wahr, zwischen ihr und uns waren Gitterstäbe. Ernst und leise verständigten sich Eltern und Nonne über die verfügbare Zeit. Dann wurden die Flügel wieder geschlossen. In der Ecke stand ein geheimnisvolles Rondell, in das wir unsere Geschenke taten und aus dem wir hinterher Geschenke in Empfang nehmen würden.Eine Tür wurde mit eiserner Schlüsselumdrehung geöffnet. Die Nonne verschwand, und wir traten in den Raum, in dem uns nach einigem Warten Schwester Michaela begrüßen würde. Der fensterlose Empfangsraum hatte die Größe einer quadratischen Zelle, er war niedrig und in den schweren weißen Mauern war eine Holzbank eingelassen. Die Holzbank, auf die wir Kinder der Reihe nach gesetzt wurden, war alles an Einrichtung in diesem Raum. Hinter dem Flügelfenster hörte man Geräusche, die das Hineinklettern Schwester Michaelas in die hölzerne Kabine andeuteten. Sie öffnete wie wir die dunklen Holzflügel und empfing uns, indem sie zuerst das Kreuzzeichen verteilte. Leise und gebeugt war ihre Erscheinung, sie sah uns Kinder einzeln an, doch fand ich kaum, dass sie uns erkannte, wie menschliche Wesen erkannt werden. Es war der unbestimmte freundliche Blick einer Person, von der man nur wusste, dass sie in einem fort für einen betete.Was sie fragte, war von der gütigen Neugier auf die Entwicklung der Dinge geprägt, der Entwicklung der Kinder vom Kindergarten zur Schule über die Erstkommunion bis zur Firmung. Auch meine Eltern hielten sich an die Erzählweise des sich langsamen Weiterentwickelns. Eigenschaften wurden genannt, die waren den Eigenschaften in den Zeugnissen der Grundschule ähnlich: manchmal vorlaut, manchmal faul, manchmal unkonzentriert und nicht immer folgsam. Danach wurden wir sanft und gütig von Schwester Michaela aufgefordert, weniger vorlaut, weniger faul, weniger unkonzentriert zu sein und den Eltern und Lehrern zu folgen.Nur einmal hörte ich die Fetzen eines Gesprächs zwischen meiner Mutter und Schwester Michaela, in dem sie demütig über die neue Äbtissin und ihr strenges Befehlskommando klagte. Es war ein freundliches Leiden, lächelnd nickte sie ab, was meine Mutter ihr für die Verbesserung der Lage vorschlug. Zu diesem Zeitpunkt war Schwester Michaela seit dreißig Jahren hinter den Klostermauern, ohne sie jemals verlassen zu haben: weder beim Tod ihrer Eltern noch bei den Hochzeiten der Geschwister und nicht bei den Geburten der Neffen und Nichten. Sie war zum Beten bestimmt und nähte Messgewänder für die Pfarrer, auch Hostien wurden hergestellt und Rosenkränze.Als ich noch hochgehoben werden musste, um Schwester Michaela die Hand durch das Eisengitter zu reichen, waren ihre Fingerknöchel schon so verkrüppelt, dass ich vor Graus erstarrte - ähnlich wie Hänsel und Gretel habe ich mich gefühlt, in meiner Phantasie war der Knöcheltest bei Hänsel und Gretel nicht zu trennen mit meiner durchs Eisengitter gestreckten Hand.Wie im Märchen ging auch hier eine Veränderung vor sich: Schwester Michaelas Fingerknöchel wurden weniger und weniger von Jahr zu Jahr und verschwanden am Ende fast ganz unter einem muskellosen Fingerbrei. Als ich so groß war, dass ich knapp über das Fensterbrett sehen konnte, hatte ich die Eisenstäbe und gleich dahinter ihre übereinander gelegten Hände direkt vor meiner Nase. Es waren kleine blasse Hände und sehr zart. Die kleinen gestreckten Finger drückten so eng aneinander, dass es den Mittelfinger hochgeschoben hatte, während es den Daumen unter die anderen Finger drängte. Am wenigsten verstand ich den Handrücken, der nicht flach war, sondern mit dem Handgelenk eine Kugel bildete, von dem die Finger nicht in einer Linie nach vorne anschlossen, sondern schräg zu Seite abgingen. Ich hielt mich an die Finger, wenn ich Schwester Michaela die Hand reichte. Und ich verstand nur soviel, dass diese Hände vom Beten so wurden, wie sie wurden.Später war ich groß genug, um Schwester Michaela in Augenhöhe wahrzunehmen. Ihre Finger lugten wie nebeneinander gelegte Hautzipfel unter dem schwarzen Ärmeln der Kutte hervor, alles war immer weniger und weniger geworden, ebenso wie die ganze Person, die immer mehr in ihrer Kutte zusammensank, je größer ich wurde, eigentlich.Auch ihr kleines Gesicht verschwand immer mehr unter dem schwarzen Schleier und der weißen Bandage, die ihren Kopf einschnürte - ich habe nie die Ohren von Schwester Michaela gesehen.Nach dem Besuch trat jedes Kind vor das Eisengitter, kniete sich hin und bekam von ihr den Segen, den sie in die Luft skizzierte. Hinterher schob uns Vater aus der Zelle in den ersten Raum, wo wir darauf warteten, dass sich das geheimnisvolle Rondell in Bewegung setzte, um die Geschenke in Empfang zu nehmen.Eine volle, mit Hostienabschnitten aufgeblähte Tüte befand sich immer darunter, neben den neuen Rosenkränzen für meine Brüder und mich - wir waren, was die Rosenkränze anging, immer in der Mode. Zarte Perlmuttperlen oval geschliffen mit beigefarbenem Lederetui und einem golden eingravierten Kreuzzeichen darauf; prismatisch in blauen Farben glitzernde Bergkristallkugeln mit langgezogenem Kreuz; silberne Rosenkranzringe, die man sich an den Mittelfinger steckte, waren eine Zeit lang der letzte Schrei.Manchmal stand auch eine Tüte mit Äpfeln, ungespritzten Äpfeln, die meist nicht mehr frisch waren, in diesem Rondell, das allein beide Seiten kannte, das Innere des Klosters und den Besuchervorraum. Nicht einen einzigen Blick in das Dahinter gab es frei, das Rondell war eingelassen in einen dunklen hölzernen Rahmen und jedes Fach darin war exakt so gezimmert, dass es auch nur den kleinsten Einblick verhinderte. Doch die Gerüche legten sich darauf und ließen sich in den Besucherraum drehen, Gerüche nach Mehlschwitze, runzligen Äpfeln und polierten Linoleumböden, beige.Neben den Rosenkränzen und den Äpfeln war die es Tüte, um die wir uns rissen, die Tüte mit den Hostien, die ging in Raub auf. Meine Brüder steckten sich in den Mund, was sie ergattern konnten. Ich hingegen sparte sie für den nächsten Schultag auf und stellte mich damit vor die Tafel im Klassenraum: "Der Leib Christi, Der Leib Christi, Der Leib Christi...", in einer Schlange standen die Kinder vor mir und streckten mir die Zunge entgegen, auf die ich die Hostie legte, Abschnitte von Hostien, die wie Kekse ausgestochen wurden. Danach kratzten sich die Noch-nicht-Kommunizierten den festgeklebten Oblaten vom Kiefer. Nach dem Besuch beschimpfte meine Mutter regelmäßig meinen Vater für das Leben, das seine Schwester und die übrigen Nonnen in diesem Kloster führten. Er hielt dagegen, dass sie auf diese Weise ständig für uns beten konnten. Das fand sie im Prinzip nicht dumm. Doch sie zweifelte daran, ob sie für ein Leben beten konnten, von dem sie nichts mitbekamen. Und dass sie freiwillig nichts mitbekommen wollten, ärgerte sie regelmäßig am stärksten. Darüber begann mein Vater mit dem Kopf zu schütteln, über so viel Respektlosigkeit für Menschen, die auf direktestem Wege in den Himmel kommen und eigentlich als heilig anzusehen sind. Auf dem Rücksitz fraßen meine Brüder die Hostien in sich hinein, die ich vor ihnen zu retten versuchte.Schwester Michaela musste ein Arm amputiert werden und später ein Bein. Am meisten beeindruckte mich, dass sie für diese Eingriffe zum ersten Mal das Kloster verlassen sollte. Es war schwieriger geworden, sie zu besuchen. In der Küche wurde ein kleines Bild von ihr angebracht. Es zeigte Schwester Michaela in einem Rollstuhl mit nur einem Fuß in einem Filzpantoffel. Sie versank hinter einem kleinen Rollstuhltischchen, auf dem eine Tüte "Capri-Sonne" stand mit Palmen und Sandstrand. Tief im Schleier gelangten zwei lächelnde Augen in die Kamera.Als einige Zeit später ihr zweites Bein amputiert werden musste, erfuhren das alle Angehörigen erst so spät, dass es nur den wenigsten gelang, sie noch lebend zu besuchen. Sie verstarb ohne Beine, und keinem war es erlaubt, an ihrem Begräbnis teilzunehmen.
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