Der König vor Mallorca: Das Sterben der Neptungras-Wiesen im Mittelmeer
Reportage Von Touristen wird die Pflanze als „eklige Alge“ verspottet. Dabei bindet Neptungras viel CO₂ und hält das Mittelmeer sauber. Doch die Erderwärmung bedroht auch dieses Öko-Wunder
Neptun Gras ist essenzieller Teil des Ökosystems Meer – sein Absterben bedroht letztlich auch unser Klima
Foto: Imago/Nature Picture Library
Der Platja Es Trenc an der Südostküste Mallorcas ist mit seinem weißen Sand ein echter Traumstrand. Wer frühmorgens hierher kommt, findet ihn fast menschenleer vor. Doch dann liegen mitunter noch große Mengen dieses graugrünen Zeugs herum. „Eklige Algen“, schimpfen die Urlauber. Die Strandpfleger schaffen das Angespülte mit Radladern beiseite. Was Touristen nicht wissen: Die angeblichen Algen schützen die Küste, halten das Wasser sauber und vieles mehr.
Rund 15 Kilometer südlich von Es Trenc macht sich heute eine kleine Yacht zur Illa de Cabrera auf. An Bord ist ein Forschungsteam des Instituto Mediterráneo de Estudios Avanzados (IMEDEA). Man steuert eine verlassene Bucht an. „Dieser Bereich ist totales SperrgebietR
gebiet“, erklärt die Meeresbiologin Iris Hendriks. Sie und ihre Kollegin Susana Flecha dürfen nur dank einer Sondergenehmigung hier arbeiten. Das Eiland und seine Umgebung wurden 1991 zum Nationalpark erklärt. Als fast ungestörtes Gebiet ist es ein ideales Revier für wissenschaftliche Studien.Während das Boot vertäut wird, legen Hendriks und Flecha ihre Tauchausrüstungen an. Die Boje dient nicht nur zum Festmachen, erläutern sie. Weiter unten, am Ankerkabel, sind auch zwei Messstationen mit Sensoren und Spektrometer installiert. Die Geräte erfassen Temperatur, Salzgehalt, pH- und Sauerstoffgehalt des Meerwassers, rund um die Uhr und über mehrere Wochen hinweg. Jede Schwankung wird im Viertelstundentakt aufgezeichnet. Mit den gesammelten Daten wollen die Expertinnen besseren Einblick in den Stoffhaushalt der hiesigen Seegraswiesen bekommen. Ihr Hauptinteresse gilt Posidonia oceanica – dem Neptungras. Keine Alge, wie die Urlauber glauben, sondern eine hochentwickelte Samenpflanzen-Spezies.Ein Sog, der in die Tiefe ziehtSie kommt ausschließlich im Mittelmeer vor und ist dort die dominierende Seegrasart. Laut einer aktuellen Hochrechnung überziehen Posidonia-Wiesen mehr als 1,2 Millionen Hektar mediterranen Meeresgrund. 65.000 davon liegen in den Gewässern rund um die Baleareninseln. Die Pflanzen brauchen viel Licht und gedeihen deshalb nur in Tiefen bis maximal 45 Meter. Vorausgesetzt, das Wasser ist klar genug. So wie vor der Illa de Cabrera.Seegraswiesen erfüllen mehrere Funktionen. Sie dienen vielen Tieren als Lebensraum und dem Nachwuchs einiger Fischarten als Kinderstube. Außerdem schützt der Bewuchs die Küstenlinie. Noch wichtiger sind die Unterwasser-Prärien für den Klimaschutz: Weltweit bedeckt Seegras nur 0,1 Prozent des Meeresbodens, bindet aber 15 Prozent alles organischen Kohlenstoffs, welcher in den Ozeanen gespeichert ist. Mit anderen Worten: Die Wiesen sind hocheffiziente CO₂-Senker. Laut Schätzungen könnte Seegras global bis zu 20 Gigatonnen Kohlenstoff jährlich binden.Man folgt den beiden Forscherinnen vor der Illa de Cabrera ins Wasser. Vom Boot aus waren klar abgegrenzte türkise und dunkelblaue Flächen zu sehen. Unter der Oberfläche wird der Unterschied sofort erkennbar. In den wenigen hellen Bereichen besteht der Boden aus nacktem oder nur spärlich bewachsenem Sand, während ringsherum dicht das Neptungras gedeiht.Iris Hendriks und Susana Flecha sind mit den Messstationen beschäftigt. Die Wissenschaftlerinnen entfernen die Speicherkarten, um die gesammelten Werte ablesen zu können. Zurück an Bord schieben sie die Träger in einen Laptop. Ein angespannter Moment. Dann erleichtertes Jubeln: Die Daten sind da! Keine Selbstverständlichkeit, beim letzten Mal hatten die Geräte gar nichts aufgezeichnet und Teile der Apparatur mussten zurück zum Hersteller in die USA geschickt werden. Dem pH-Wert kommt in den Zahlenreihen eine Schlüsselrolle zu. Über ihn lässt sich die CO₂-Konzentration des Meerwassers berechnen, sagt Hendriks. Wie das Grün an Land benötigen auch marine Gewächse Kohlendioxid für ihre Fotosynthese. Bislang aber war CO₂ in den Ozeanen eher spärlich vorhanden. Die Evolution hat Seegras und Co. an diesen Mangel angepasst, erklärt Hendriks. An der Luft scheint der menschengemachte Kohlendioxidanstieg das Pflanzenwachstum anzukurbeln.Doch ob dies auch im Meer passiert, sei fraglich. „Wir sehen beim Seegras keine verstärkte CO₂-Aufnahme.“ Möglicherweise wird dies durch die ebenfalls steigenden Wassertemperaturen bewirkt. Posidonia ist sehr empfindlich gegenüber Hitze. Schon eine Erwärmung um wenige Grad löst bei den Pflanzen metabolischen Stress aus. Bei mehr als 28 Grad Celsius steigt die natürliche Absterberate von Neptungras um das Dreifache an. Der Klimawandel könnte somit auch dieses Ökosystem bedrohen.Wie stark der Kohlendioxid-Einzug durch Posidonia dennoch ist, haben die Forscher in der Bucht von Palma aufgezeigt. Dort lässt sich tagsüber an der Meeresoberfläche oft eine Senkung der CO₂-Konzentration nachweisen. Unten erstrecken sich die Seegraswiesen. Die Pflanzen erzeugen praktisch einen Sog, der das Gas abwärts zieht – zum Teil mehr als 15 Meter in die Tiefe. Modellrechnungen zufolge speichern die Posidonia-Bestände rund um die Balearen jährlich circa 90 Gramm Kohlenstoff pro Quadratmeter.In einigen der Unterwasser-Prärien dürfte die Menge noch deutlich größer sein. Der Hintergrund: Die Pflanzen fixieren den Kohlenstoff nicht nur über ihren Wuchs in der eigenen Biomasse; sie binden auch große Mengen organisch angereicherter Sedimente. Dieses meist schwebende Material verfängt sich zwischen den Blättern und landet anschließend als Schlamm am Boden, wo er im Geflecht aus Wurzeln und unterirdischen Stängeln gefangen bleibt. Da im Untergrund von Posidonia-Wiesen normalerweise kein Sauerstoff vorhanden ist, können Mikroben das biologische Material kaum abbauen. Ähnlich wie in Torfmooren bilden sich so wachsende Polster. An manchen Orten sind diese bis zu sechs Meter dick.Posidonia unter StressTrotz der Anpassung an nährstoffarme Bedingungen ist Posidonia recht wuchsaktiv. Die Art vermehrt sich überwiegend ungeschlechtlich: durch Ausläufer, die im Schnitt um etwa sechs Zentimeter jährlich vorrücken. Viele Wiesen bestehen somit aus Klonen eines einzigen Muttergewächses. Vor der Insel Formentera fanden Forscherinnen solche Abkömmlinge auch in circa 15 Kilometer Entfernung voneinander. Weil derartige Klone eigentlich nur Teile ein und derselben Pflanze sind, könnte letztere laut den Untersuchungsergebnissen rund 80.000 Jahre alt sein. Sie wäre dann der älteste bekannte Organismus der Welt. Einen weiteren Rekord hält ein riesiger Klon der Art Posidonia australis an der Westküste Australiens. Sein Bestand erstreckt sich über rund 180 Kilometer Meeresboden.Seegraswiesen haben auch eine Funktion als biologische Kläranlagen. Hier liegt das Forschungsgebiet von Neus Garcias Bonet, ebenfalls am IMEDEA tätig. Posidonia beherbergt eine reichhaltige Mikroflora, darunter viele sogenannte denitrifizierende Bakterien, erklärt die Expertin. Der Vorteil davon: Stickstoffverbindungen wie Nitrat führen oft zu Überdüngung, die Winzlinge neutralisieren diese schädlichen Substanzen. Damit verringern sie die Nährstoffbelastung von Küstengewässern, verursacht durch Verschmutzung aus Landwirtschaft, Kanalisation, Verkehr und Industrie. Diese Denitrifizierung ist jedoch nur ein Aspekt im Stickstoffhaushalt von Posidonia-Wiesen, betont Garcias Bonet. Im Wurzelbereich des Neptungrases leben auch große Mengen stickstoffbindender Bakterien – ein Phänomen, welches man an Land vor allem von Bohnen, Erbsen und Co. kennt. Wahrscheinlich leben diese Mikroorganismen mit Posidonia in Symbiose, meint Garcias Bonet. „Das lässt sich aber nur schwer belegen.“ Die Pflanzen nehmen allerdings Stickstoff aus bakterieller Quelle auf, wie die Biologin bereits nachweisen konnte.Zurück ins Wasser. Unweit der Bojenverankerung sieht eines der Posidonia-Betten so aus, als sei es mit einem riesigen Spaten abgestochen worden. Sturmwellen und Strömungen können Löcher in die Wiesen reißen, erklärt Iris Hendriks. Ein normaler, natürlicher Vorgang. Die Abbruchkante indes bietet einen erstklassigen Einblick in die Unterwelt des Seegraspolsters, ein Labyrinth aus wirr verästelten Wurzeln und Sprossen. Da passt keine Hand hindurch. Nur ein paar kleine Krebse wuseln frei ein und aus. Sofort wird klar: Solange dieses Netzwerk intakt bleibt, gibt es für Schlick und Kohlenstoff kein Entrinnen.Auf den Sandflächen sprießt stellenweise noch etwas anderes: Dieser eher spärlich anmutende Bewuchs ist eine weitere Seegrasspezies mit dem botanischen Namen Cymodocea nodosa. Die kleineren Pflanzen sind resistenter gegen Erwärmung, doch, trotz intensiver CO₂-Aufnahme im Stoffwechsel, keine so effektiven Kohlenstoffspeicher wie Posidonia. Es fehlt ihnen einfach an Masse. In Zukunft aber könnten die steigenden Temperaturen Cymodocea nodosa gegenüber dem Neptungras begünstigen. Dann kämen wohl enorme ökologische Umwälzungen auf die mediterranen Küstengewässer zu. Über die Auswirkungen lässt sich momentan höchstens spekulieren. Viele Tierarten würden ihren angestammten Lebensraum und ihre Nahrungsgrundlage verlieren, vor Tunesien kam es nach einem Rückzug von Posidonia bereits zu einbrechenden Fischereierträgen.Leider mussten Poseidons Savannen in den vergangenen Jahrzehnten bereits einiges an Schäden einstecken. Schuld daran sind in erster Linie die Wasserverschmutzung und der wachsende Bootsverkehr. Rücksichtslose Yachtbesitzer pflügen auch heute noch mit ihren Ankern durch die Bestände. Je nach Region gingen schon elf bis 52 Prozent der Wiesenflächen verloren.Jorge Terrados von IMEDEA stemmt sich diesem Schwund entgegen. Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe entwickelt der Experte Methoden zur Wiederherstellung von Seegraswiesen. Eine echte Herausforderung. „Das Problem mit Posidonia ist, dass es nur selten blüht und Früchte trägt“, sagt der Biologe. Abgesehen davon könne man das Saatgut nicht lagern. Nach der Blüte im Herbst reifen die Samen im Winter und werden dann von den Pflanzen freigesetzt. Rund zwei Wochen lang schwimmen sie an der Wasseroberfläche herum, bis sie keimen und zu Boden sinken. Manche Samen jedoch werden vorher am Strand angespült.Das IMEDEA-Team sammelt diese ein und lässt sie im Aquarium keimen. Die Methode ist wissenschaftlich interessant, aber sehr aufwendig. „Oft haben wir nicht genug Saatgut“, berichtet Terrados. Seit 2018 testen die Forscher deshalb auch den Einsatz von Posidonia-Ablegern für Wiederbepflanzungen. Die Fragmente werden vom Meeresboden aufgelesen, was ebenfalls viel Arbeit bedeutet. Mit mehr als 12.000 so erzeugten Stecklingen haben die Experten inzwischen die rund zwei Hektar große Schneise eines Elektrizitätskabels vor der Nordküste Mallorcas neu begrünt. Das Projekt scheint gelungen, über 90 Prozent der Pflänzchen sind aufgeblüht. „Trotzdem ist dies nicht die Lösung“, meint Jorge Terrados. Großflächige Wiederbepflanzung sei zu teuer, die zwei Hektar alleine kosteten gut 500.000 Euro. Stattdessen müsse endlich die Zerstörung gestoppt werden.